Scharfe Klingen für kaltblütige Hobbybotaniker

„Die Klinge will nicht ins Fleisch“: Georg Fels (links) verfügt nicht nur über botanische und handwerkliche Kompetenz, sondern auch über einen reichhaltigen Fundus an Gärtnerweisheiten, mit denen er seine Seminarteilnehmer zum Umgang mit dem rasiermesserscharfen Kopuliermesser motiviert. Foto: Ulrike Havermeyer
„Die Klinge will nicht ins Fleisch“: Georg Fels (links) verfügt nicht nur über botanische und handwerkliche Kompetenz, sondern auch über einen reichhaltigen Fundus an Gärtnerweisheiten, mit denen er seine Seminarteilnehmer zum Umgang mit dem rasiermesserscharfen Kopuliermesser motiviert. Foto: Ulrike Havermeyer

Im Schatten des Trompetenbaums, umringt von altehrwürdigen Apfelsorten wie „Finkenwerder Herbstprinz“, „Adersleber Kalvill“ und „Krügers Dickstiel“, sitzen wir und lauschen. Auf den Tischen vor uns blitzen die Klingen diverser Okulierhippen und Kopuliermesser Abenteuer verheißend in der Morgensonne. Nein, das Risiko scheuen wir nicht – schließlich sind wir kaltblütige Hobbybotaniker. Willens und entschlossen, uns hier und jetzt vom Meister selbst in die hohe Schule des Veredelungsschnittes einweisen zu lassen: Ein gutes Dutzend Freunde der gehobenen Gartenkunst inhaliert aufmerksam die Worte von Georg Fels. Der diplomierte Westerkappelner Agraringenieur erklärt gerade, wie sich ein scharfer Stahl noch etwas schärfer schleifen lässt, um ihn dann fachgerecht zum Schlitzen und Schneiden, zum Lappen, Kappen und Kerben benutzen zu können.

Beim Veredeln geht es um den Erhalt der Sorte

Warum Gärtner dem Ärgernis zerschundener Finger und blutender Daumenkuppen seit Jahrhunderten trotzen und sich beständig und unverdrossen wieder und wieder mit dem Veredeln der verschiedenen Rosen- und Obstsorten beschäftigen? „Mit Züchten hat das gar nichts zu tun“, räumt Georg Fels einen unter Nichteingeweihten weit verbreiteten Irrtum aus: „Es geht vor allem um den Erhalt der jeweiligen Sorte.“ Denn Birnen, Pflaumen oder Äpfel zu vermehren, ist weitaus kniffeliger als Möhren und Erbsen auszusäen: Wenn man die acht Kerne aus einem leckeren Cox Orange heraus löse und in die Erde verfrachte, beschreibt Fels, dann wüchsen daraus tatsächlich acht Bäume. „Aber –“, der Meister hebt Okulierhippe und Augenbrauen dramatisch in die Höhe: „von diesen acht Bäumchen sind, getreu der Mendelschen Vererbungsgesetze, sieben Wildlinge – und nur ein Individuum ist ein Sortenechter, der später die erwünschten Cox Orange hervor bringt.“ Um herauszufinden, welcher von diesen Acht der eine Sortenreine ist, müsse man überdies noch etliche Jahre bis zur Fruchtreife abwarten. Ein mühsames Geschäft.

Der Cox Orange wird seit 1825 auf diese Weise geklont

Dann also doch besser den scharfen Stahl in die zittrige Anfängerhand genommen – und ran ans Veredeln. Was nichts anderes bedeute, nickt Fels zufrieden, als genetische Klone zu erzeugen. Aus jedem einjährigen Zweiglein, das vom Cox-Orange-Baum geschnitten und fachgerecht auf eine passende „Unterlage“ gebracht wird, wächst auf diese Weise in jedem Fall ein neuer Cox-Orange. Klonen? Anders als im Reich der Tiere und Monster erfreut sich das Produzieren von erbgleichen Abziehbildern der verschiedenen Obstsorten unter den Pflanzenfreunden einer langen und unaufgeregten Tradition. Der Cox Orange soll beispielsweise um 1825 eher zufällig von Richard Cox in einem englischen Garten gezüchtet worden sein und wird seitdem als Klon durch Veredelung erhalten. Die Goldparmäne stammt womöglich sogar aus dem Mittelalter.

Darf’s noch ein Scheibchen mehr sein? Die Schnittstelle, mit der das Edelreis auf die Unterlage gebracht wird, sollte glatt, sauber und symmetrisch sein. Im Veredelungskurs der Baumschule Fels hatten die Teilnehmer reichlich Gelegenheit zum Üben. Foto: Ulrike Havermeyer
Darf’s noch ein Scheibchen mehr sein? Die Schnittstelle, mit der das Edelreis auf die Unterlage gebracht wird, sollte glatt, sauber und symmetrisch sein. Foto: Ulrike Havermeyer

Die Klingen sind gewetzt, die Theorie sitzt. Jetzt gilt es, sich mit der Methode des „Kopulierens“ vertraut zu machen, bei der zwei Pflanzenkörper miteinander verbunden werden. „Eine astreine Organtransplantation“, definiert Georg Fels. Er und seine Mitarbeiterin Tanja Schüttemeyer verteilen die vorbereiteten „Edelreiser“: einen halben Meter lange, frische, aber entblätterte Apfelbaumtriebe, die wir nun zu Übungszwecken malträtieren dürfen. Worauf kommt es an? Kurz gesagt – auf den perfekten Schnitt: Das Messer im korrekten Winkel und an der korrekten Stelle am korrekt zwischen Daumen und Zeigefinger fixierten Reis ansetzen und – wutsch! – die Klinge in einem Zug durchziehen. Klingt kompliziert? Ist es auch. Aber besteht die Qualität eines guten Lehrers nicht genau darin, anspruchsvolle Techniken leicht zu vermitteln?

Mit schwungvoller Zuversicht drauflos geschnippelt

Während wir zunächst noch ein bisschen gehemmt, doch von Reis zu Reis munterer drauflos schnippeln und mit schwungvoller Zuversicht kleine Zweigreste durch die Rabatten katapultieren, bahnen sich Georg Fels und Tanja Schüttemeyer den Weg durch die Gefahrenzone. „Die Klinge etwas flacher ansetzen.“ – „Aufpassen, dass der Schnitt gerade geführt wird.“ – „Das Handgelenk bleibt starr, der Daumen geht mit.“ Was schwierig war – meine Tischnachbarin Irmgard Hornung aus Lotte und ich sind ehrlich überrascht – klappt eine halbe Stunde später erfreulich akzeptabel. Wir atmen durch: Edelreiser können wir also schon mal zuschneiden – was jetzt?

Verdunstungsschutz für die Transplantationswunde

„Nun braucht ihr den gegengleichen Schnitt auf der Unterlage“, erklärt der Gartenbauwissenschaftler. Im Ernstfall wäre diese „Unterlage“ ein in Saft und Kraft stehender Baum jüngeren oder auch älteren Semesters – in unserem Übungskurs sind es auf einen Meter gekappte, einjährige Zweige. Alles schön handlich. Den Gegenschnitt zu ziehen, ist für Irmgard und mich kein Problem mehr. Die nächste Herausforderung besteht allerdings darin, beide Schnittstellen sauber aufeinander zu legen und so mit einem Spezialband zu umwickeln, dass beide Holzkörper schließlich miteinander verwachsen können. Danach muss die Transplantationswunde nur noch mit einem Verdunstungsschutz überstrichen werden.

„Ihr wart richtig gut – keine einzige Schnittwunde!“

Die beste Zeit zum Transplantieren der Edelreiser, erläutert Georg Fels, sei neben der Vegetationsruhe im Winter die Phase ab Mitte August. Mitte August? Bis dahin sind es doch nur noch wenige Wochen … Wie von selbst scheinen die Veredelungsmesser in unseren Händen zu zucken. Die Blicke, die Irmgard und ich daraufhin austauschen signalisieren verwegene Entschlossenheit: Besteht die hervorstechendste Eigenschaft einer guten Schülerin nicht genau darin, die bei ihrem Lehrer erworbenen Kenntnisse in die eigene Wirklichkeit zu übertragen? Der Schatten des Trompetenbaums ist mittlerweile weiter gezogen. Anja Schüttemeyer sammelt die Okuliermesser und Kopulationshippen ein. Als wir zwischen „Finkenwerder Herbstprinz“, „Adersleber Kalvill“ und „Krügers Dickstiel“ zurück in den Alltag schlendern, wirft Georg Fels einen anerkennenden Blick auf die Hände seiner Schüler: „Ihr wart richtig gut“, sagt er und lächelt amüsiert: „Keine einzige Schnittwunde!“

(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 09.07.2014; Westfälische Nachrichten, 09.07.2014)