Nach dem Entkusseln ist vor dem Entkusseln

Auf die richtige Technik kommt es an, sagt Pia Goecke aus Recke. Die Studentin der Geoökologie arbeitet zum ersten Mal mit der Wiedehopfhacke – und freut sich über den Erfolg. Fotos (6): Ulrike Havermeyer

Wen es zum Entkusseln ins Recker Moor zieht, der sollte den Schweiß nicht scheuen und sich auf ordentlich Muskelkater gefasst machen. Mehr als 30 hartgesottene Hackenschwinger haben das jetzt gerne in Kauf genommen, um ihren Beitrag zum Erhalt eines so wertvollen wie bedrohten Lebensraumes zu leisten.

„Die Birken müssen raus“, bringen Jan und Martin unsere spätsommerliche Mission gnadenlos auf den Punkt und stiefeln entschlossen in die weitläufige, aber mit dem Makel der Verwaldung behaftete Fläche hinein. Das dürfen die beiden Grundschüler – genau wie wir Erwachsenen – nur heute, nur ausnahmsweise und nur unter fachmännischer Anleitung und Aufsicht. Denn die befestigten Wege zu verlassen und seine Schritte auf schlüpfrigen Grund zu lenken, das ist im Hochmoor – dem faszinierenden Reich, das weder Land noch Wasser ist – nicht nur verboten, sondern auch höchst gefährlich.

Jan und Martin schleppen mit unermüdlichem Eifer die abgeholzten Birken aus dem Moor.

Eine bittere Erkenntnis: Ausgerechnet der Klimawandel, der auch die Moore zunehmend aus dem Gleichgewicht bringt, hält uns bei unserem Arbeitseinsatz einigermaßen im Lot. Weil immer weniger Regen fällt, wird der Boden des Moores immer trockener – und wir können ohne wasserfeste Gummistiefel über die buckelige Krume stolpern. „Etwa 780 Liter Niederschlag pro Quadratmeter pro Jahr sind normal für diese Gegend“, erklärt Karl-Heinz Löckener, der als Landschaftspfleger bei der Arbeitsgemeinschaft für Naturschutz Tecklenburger Land (ANTL) beschäftigt ist und sich seit 24 Jahren um das Recker Moor kümmert. „Ungefähr 550 Liter davon verdunsten, der Rest wird in den Torfmoosen gespeichert.“ Im vergangenen Jahr seien allerdings nur 600 Liter Niederschlag gefallen.

Wie ein Schwamm: Das Torfmoos, das Karl-Heinz Löckener hier zeigt, ist in der Lage das 30- bis 40-fache des eigenen Gewichts an Wasser zu speichern.

„Martin an Jan: Ist schon wieder was zum Schleppen da?“ Mit Walkie-Talkies ausgestattet ist der Naturschutz-Nachwuchs perfekt organisiert, um effizient – ohne Stau oder lästige Wartezeiten – seinen Anteil der von den Erwachsenen niedergerungenen Laubbäumchen aus dem Moor zur Sammelstelle zu befördern. Ganz nebenbei schnappen die beiden Brüder jede Menge Wissenswertes über die enorme Bedeutung des Hochmoores als Wasser- und Kohlenstoffspeicher sowie über seine seltenen Bewohner – Moorfrosch, Schlingnatter oder Braunkehlchen – auf. Während den Kindern der Spaß am Abenteuer ins Gesicht geschrieben steht, belegen die sich mehr und mehr rötenden Wangen der Erwachsenen deren ambitionierten körperlichen Einsatz.

Ganz schön anstrengend: Die Birken, die Kerstin Niemeyer (Wallenhorst) und Stefanie Stallbörger (Ibbenbüren) aus dem Moor tragen, sind beileibe keine „kleinen, krüppeligen Kusseln“, sondern stattliche Jungbäume. Der hohe Stickstoffeintrag durch die Luft und die geringen Niederschläge fördern ihr Wachstum.

Der Begriff „Entkusseln“, erläutert Löckener, stamme aus dem Brandenburgischen, wobei die „Kussel“ einen „kleinen, krüppeligen Baum“ beschreibe. Weil die Bäume dem Moor wertvolles Wasser entziehen und dessen auf reichlich Sonne angewiesene Vegetation beschatten und schwächen, müssen sie – auf den noch bis in die 1970-er Jahre zum Torfabbau genutzten Flächen – regelmäßig entfernt werden. Wenn die Umweltbedingungen sich positiv entwickeln und die Torfmoose über die Jahre wieder eine Torfschicht aufbauen, versauert der Boden auf natürliche Weise – und immer weniger Birken werden sich ansiedeln. „Das Moor ist eine Naturlandschaft“, betont Löckener, „die einmal ein Drittel der Fläche Nordwestdeutschlands ausgemacht hat.“ Unter natürlichen Umständen könne man das Moor sich selbst überlassen, anders als beispielsweise die Feuchtwiesen, die als Kulturlandschaft auf die Pflege des Menschen angewiesen seien.

Hoch motiviert rückt Ingrid Blome dem Wurzelwerk zuleibe.

Stellt sich eine entscheidende Frage: Wie genau funktioniert Entkusseln eigentlich? Die Antwort ist deutlich schneller gegeben als die Aktion ausgeführt: Schnittschutzstiefel anziehen und sich von Einsatzleiter Karl-Heinz Löckener eine Wiedehopfhacke aushändigen lassen. Sich bis zur nächsten Birke oder bis zum nächsten Faulbaum durchkämpfen, die Wurzel freilegen und kappen – und die „Kussel“ unterhalb des Stammes entfernen. „Sonst kommt es zum Hydra-Effekt“, erklärt Löckener: Wo vormals ein Stamm wuchs, sprießen dann später viele. Wer nicht hacken will oder kann, muss schleppen. Denn nach dem Motto „Alles muss raus“ darf kein überflüssiges Pflanzenmaterial im nährstoffarmen Biotop verbleiben.

Faszinierender Lebensraum: Das Recker Moor ist zu jeder Jahreszeit einen Besuch wert, nicht nur für schweißtreibende Arbeitseinsätze.

Rund vier Stunden lang ächzen und schnaufen die Kinder und Jugendlichen, die jungen Familien, die Erwachsenen und die Senioren im Recker Moor. Und sie alle sehen dabei überraschend zufrieden aus. „Man weiß, wofür man das macht“, sagt Ingrid Blome: Naturschutz. Klimaschutz. Die Zukunft eben. „Heute haben wir ungefähr einen halben Hektar geschafft“, lässt Karl-Heinz Löckener seinen Blick über die grüne Ebene schweifen. Weiter hinten, gleich nebenan links und auf der gegenüber liegenden Seite des Weges strecken allerdings noch hunderte junger Birken ihre Äste ungerührt in den Himmel. „Das Naturschutzgebiet hat eine Fläche von 340 Hektar“, sinniert der Landschaftspfleger, „150 Hektar davon sind reines Moor.“ Und hier gilt nun einmal: Nach dem Entkusseln ist vor dem Entkusseln: Alle fünf Jahre muss das – unter den derzeitigen ökologischen Bedingungen ständig nachwachsende – Gehölz von ein und derselben Fläche wieder und wieder entfernt werden. Wann die nächste Gelegenheit zum Mithelfen ist, erfahren Interessierte auf der Homepage der ANTL www.antl-ev.de.

(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 16. September 2020)