Morgens um fünf – wenn die Farben noch schlafen

Morgens um sieben erwachen Möchsgrasmücke, Schwarzdrossel und Co. Foto: Ulrike Havermeyer
Hingehorcht: Im Morgengrauen erwachen Möchsgrasmücke, Schwarzdrossel und Co. Foto: Ulrike Havermeyer

Der unnachgiebig vor sich hin fiepende Wecker zeigt 4:05 Uhr. So früh steht doch keine Hupfdohle auf! Nur den zu konditionellen Einbrüchen im weiteren Tagesverlauf bereiten Vogelfreund zieht es in einer solchen Herrgottsfrühe aus den Federn. Schließlich lädt die Arbeitsgemeinschaft für Naturschutz Tecklenburger Land (ANTL) zu ihrer traditionellen Mai-Exkursion ein.

Wohl wissend, dass sich auf einem Gang mit den engagierten Umweltspezialisten fundiertes Wissen über die hiesige Fauna und Flora erwerben lässt, verbrenne ich mir noch schnell die Lippe an einem eilig herunter gestürzten Kaffee, bevor ich entschlossen zur Vogelstimmen-Wanderung rund um das Naturschutzzentrum „Sägemühle“ nach Tecklenburg aufbreche.

Warten auf den frühen Vogel

Mit gut 15 anderen ornithologisch beseelten Enthusiasten stehe ich wenig später unter einer alten Rotbuche um Manfred Lindenschmidt herum. Manfred Lindenschmidt ist Vogelkundler und momentan unsichtbar. Der Grund: Tiefe Dunkelheit breitet sich nicht nur über die umliegende Talaue aus, sondern hüllt auch unsere verschworene kleine Gemeinschaft ein. Noch keine fünf Uhr. In der Stille des jungen Tages stehen wir und warten auf den frühen Vogel. Hin und wieder blitzt der Strahl einer Taschenlampe aus der Ferne auf: Dort streichen weitere 15 Unerschrockene unter der Führung von Lindenschmidts Kollegen Hubert Ortmann durch den Forst. „Lauschen Sie mal genau hin“, fordert der ANTL-Mann uns auf. Doch kein fröhliches Zwitschern will das in Nebel verpackte Schweigen durchbrechen.

Basislektionen vor Sonnenaufgang

Lindenschmidt nutzt die Gelegenheit, ein wenig Basiswissen unter das angehende Ornithologen-Volk zu streuen: Warum beginnen die meisten vogelkundlichen Wanderungen bereits vor Sonnenaufgang? „Drei Gründe“, erläutert er: „Erstens: Viele Vögel sind kurz nach Sonnenaufgang besonders aktiv. Zweitens: Der Zivilisationslärm des Menschen ist zu dieser Stunde noch gering. Und drittens“, hebt Lindenschmidt die Stimme und seine Silhouette zeichnet sich schemenhaft vor der inzwischen morgendämmernden Kulisse ab: „Drittens ist das natürlich auch ein sehr schönes emotionales Erlebnis.“ Lautstarke Zustimmung aus dem Unterholz: Ein womöglich pädagogisch ambitionierter Fasanenhahn hat ein Einsehen und sorgt mit seinem dissonanten Weckruf dafür, dass augenblicklich Schluss ist mit der – dem ornithologischen Erkenntnisgewinn eher abträglichen – Waldesruh‘. Das Konzert beginnt.

Wenn die Farben noch schlafen

Vorsichtig schieben wir uns von Baum zu Baum, von Brutrevier zu Brutrevier. Das kaum zu durchdringende Schwarz des frühen Morgens verwandelt sich Schritt für Schritt in hölzernes Anthrazit, vielblättriges Grau und zartes Blütenweiß. Die Farben schlafen noch und erwachen deutlich später als Rotkehlchen, Blaumeise und Co. Als wanderten wir durch einen alten Schwarz-Weiß-Film. Manfred Lindenschmidt ist nun vollends in seinem Element, schließt die Augen, richtet seine Aufmerksamkeit aus, horcht – und erklärt: Hier verteidigt ein Buchfink laut tönend seinen Nistplatz, dort schmettert ein Zaunkönig seinen – wohl nur für den konkurrierenden Artgenossen furchteinflößenden – Gesang.

Staunen. Lernen. Erkennen

Zwei Stunden lang hören und sehen wir der Natur beim Erwachen über die Schulter. Staunend. Lernend. Und schließlich sogar erkennend. Manchmal jedenfalls. Als wir den Rückweg zur Sägemühle antreten, wo die ANTL-Mitglieder ein deftiges Buffet für alle Frühaufgestandenen vorbereitet haben, nehmen auch das Gras unter unseren Füßen und der Holunder am Wegesrand allmählich ihr vertrautes Tagesgrün an.

(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 28.05.2014; Westfälische Nachrichten, 28.05.2014)