Als die Graugans das Qi in sich weckte

Qig
In den Übungsmustern, die die alten Chinesen oft bereits vor mehr als tausend Jahren entwickelt haben, bewegen sich die Kursteilnehmer beim Qigong: zum Wohle von Geist und Körper. Foto: Ulrike Havermeyer

Der erste Satz ist meistens der schwierigste. Unentschlossen blättere ich in meinem Notizblock: Zahlen und Fakten, die ich während meines jüngsten Termins aufgeschrieben habe, Zitate und Eindrücke füllen die Seiten. Wo in diesem Wust aus Möglichkeiten soll ich die Geschichte beginnen lassen? Und wie bringe ich all die Informationen bloß in eine Struktur aus schlichten und verständlichen Sätzen? Den Knopf, auf den ich drücken muss, um die Gedanken wie auf Kommando zu sortieren, habe ich bei mir bisher noch nicht gefunden. Aber vielleicht lässt sich das ja ändern: „Qigong für Anfänger“ steht in der Kleinanzeige, die ich mir neulich ausgeschnitten und an mein Regal geklebt habe: Denn Qigong – das ist doch eine dieser Jahrtausende alten chinesischen Meditationsformen, die zu geistiger Klarheit beitragen? Ich greife zum Telefon und vereinbare einen Termin.

Auf kräftigen Schwingen

Die Luft ist kühl und gläsern. Der Himmel weit. Kraftvoll und mit herrlich dynamischen Schlägen trägt mich der Rhythmus meiner Schwingen durch den endlosen Raum: Ich bin eine Graugans. Vor mir fliegen Heike aus Lotte, Marion aus Laggenbeck, Gitta aus Osnabrück und Ingrid aus Westerkappeln. Beharrlich folgen wir unserm Leittier Jutta Lange. Die gebürtige Landwirtstochter aus Velpe ist – genau wie die übrigen handelnden Personen – natürlich alles andere als ein schräger Vogel: Vor kurzem hat die 58-jährige Krankenschwester ihre Ausbildung zur „Qigong-Kursleiterin“ absolviert. Seitdem verwandeln sie und ihre Schülerinnen sich regelmäßig zum Wohle von Körper und Geist in allerlei eigenartiges Getier.

Die Bewegungen mit Energie füllen

„Nur wahrnehmen, nicht bewerten. Lasst die Gedanken kommen und wieder gehen“, raunt Jutta Lange uns mit sanfter Stimme zu. Wir stehen wieder fest auf der Erde, die Füße hüftbreit auseinander, die Arme in Schulterhöhe zu den Seiten ausgestreckt. Die Handflächen zunächst nach unten, dann die Hände anwinkeln. Ist das etwa alles?, frage ich mich und spüre – außer, dass meine Arme langsam aber sicher unangenehm schwer werden – nichts, was mich einem hübschen ersten Satz näher bringen würde. „Die meisten Bewegungsanteile im Qigong sind zwar recht simpel“, erklärt die Kursleiterin, „dennoch lebt alles davon, dass man sehr viel übt.“ Denn: „Die Herausforderung besteht darin, die Bewegungen mit Energie, mit ‚Qi‘, zu füllen.“ – Einen Weg, wie das gelingen kann, haben schon die alten chinesischen Meister entdeckt und an ihre Schüler weitergegeben: die Visualisierung, sprich: die eigene Vorstellungskraft trainieren. „Stellt euch vor, ihr wollt mit beiden Händen jeweils einen sehr schweren Gegenstand zur Seite drücken.“ Kaum hat Jutta Lange diese Anregung geliefert, stehe ich – schwupps! – auch schon zwischen zwei mannshohen Eiche-Rustikal-Schränken und schiebe gleichmäßig gegen das Mobiliar an. „Nur wahrnehmen, nicht bewerten. Lasst die Gedanken kommen und wieder gehen.“ Ich fühle den Widerstand der hölzernen Bohlen und staune in mich hinein – die ermüdende Schwere in meinen Armen weicht einer Art dynamischer und irgendwie leichter und belebender Energie. Dem Schrank sei Dank!

„Nur wahrnehmen, nicht bewerten.“

Außer in wie mächtige Zaubersprüche formulierten Visualisierungsformeln – „Den Regenbogen bewegen“, „Die Wolken teilen“ – unterweist uns Jutta Lange auch in Atem- und Meditationsübungen, in Körperwahrnehmung und Bewegungsritualen. Manche davon sind allerdings so komplex, dass ich mich damit begnüge, Jutta und Heike, Gitta, Ingrid und Marion zuzusehen und die fließende Choreografie ihres Qigong zu genießen. Alleine dieser Anblick scheint eine beruhigende Wirkung auf den angestrengten Geist zu haben. „Nur wahrnehmen, nicht bewerten. Lasst die Gedanken kommen und wieder gehen.“

Ein Arbeitsplatz auf weißen Wolken

Bevor ich mich am nächsten Tag an die Arbeit begebe, lasse ich meinen Schreibtisch auf einer weißen Schäfchenwolke landen – hier oben ist die Luft so angenehm frisch und die Aussicht weit gespannt. Nach ein paar kräftigen Atemzügen lichtet sich dann auch das Gedankenwirrwarr über meinem Notizblock – und der Text nimmt tatsächlich Gestalt an. Ich schaffe es gerade noch, den letzten Satz in den PC zu tippen, als ich spüre, wie die Federn auf meinem Körper zu wachsen beginnen. Jetzt noch schnell die Datei speichern und schließen – und dann, unbeschwert von lähmenden Grübeleien, im freien Flug mitten hinein in die inspirierenden Bilder- und Bewegungswelten des Qigong.

(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 23. 09. 2015; Westfälische Nachrichten, 23. 09. 2015)