Irgendwas ist immer weg …

Wer gemeinsam tüftelt, lernt oft leichter – und hat in jedem Fall mehr Spaß dabei: Gudrun (links) aus Westerkappeln und Heidrun aus Lotte beim Gedichte-Puzzle. Foto: Ulrike Havermeyer
Wer gemeinsam tüftelt, lernt oft leichter – und hat in jedem Fall mehr Spaß dabei: Gudrun (links) aus Westerkappeln und Heidrun aus Lotte beim Gedichte-Puzzle. Foto: Ulrike Havermeyer

Welche fünf Dinge wollte ich nachher unbedingt im Supermarkt besorgen? Wo um Himmels Willen habe ich den Autoschlüssel hingelegt? Und wie war noch gleich der Name meines nächsten Interviewpartners? Irgendwas ist immer weg.

Nicht bloß, dass unser Gehirn sich Vieles merken kann, ist aus der Sicht der Wissenschaftler erstaunlich – mindestens ebenso faszinierend sei die Tatsache, sagen die Forscher, dass die kleinen grauen Zellen unnütze Informationen auch schnell wieder vergessen. Leider sind mein Denkorgan und ich uns selten einig darüber, was denn eigentlich das Wichtige ist. Um die Beziehung zwischen meiner geistigen Schaltzentrale und mir zu optimieren, mische ich mich unter die Teilnehmer des Gedächtnistrainings der Ortsgruppe Westerkappeln des Deutschen Roten Kreuzes.

Jetzt bloß nicht hibbelig werden!

Kursleiter Berthold Vorbrink, ganzheitlicher Gedächtnistrainer aus Ibbenbüren, blickt auffordernd in die Runde: Hausarbeitenkontrolle! Während die knapp 15 Teilnehmer, allesamt aus Westerkappeln und Lotte und zwischen 59 und 82 Jahre alt, vergnügt schwatzend ihr Unterrichtsmaterial aus den Taschen kramen, drückt Vorbrink mir als Nachzüglerin noch schnell ein Aufgabenblatt in die Hand: „Für Sie sicher kein Problem“, lächelt er mir aufmunternd zu. „Ach, du liebe Güte“, denke ich und überfliege die Themenstellung: Teekesselchen raten. Die eigene Schulzeit kommt ungewollt wieder hoch, und schon wähne ich mich unter Zeit- und Leistungsdruck. In meinem Schädel beginnt es leicht zu pochen – jetzt bloß kein Stress, versuche ich gar nicht erst hibbelig zu werden. „Kleines Gotteshaus – Musikergesellschaft“, das ist einfach: „Kapelle“, notiere ich. Aber „Schädelknochen – Nadelbaum“? Meine Gedanken suchen vergebens nach einer Übereinstimmung – und je hektischer ich zwischen den verstaubten Regalen meines Gedächtnisses herum irre, desto verstockter scheint mein Gehirn zu schmollen und verweigert mir die Kooperation.

Sich gegenseitig inspirieren

„Mit dem Paar hab ich mich auch schwer getan.“ Neben mir sitzt die 72-jährige Gudrun, beugt sich zu mir herüber und befreit mich aus meiner Trance. „Guck mal hier.“ Sie schiebt mir ihren Zettel rüber. Na klar: Kiefer! Wir lächeln uns amüsiert zu. „Aber das Nächste habe ich einfach nicht raus gekriegt“, schüttelt sie den Kopf: „Körperorgan – Frucht eines Baumes. Adamsapfel?“ Vom Tisch gegenüber ruft uns jemand „Mandel!“ zu. Mit einem Mal registriere ich, dass längst alle Teilnehmer im Raum in eine muntere Unterhaltung über das eine oder andere widerspenstige Teekesselchen verfallen sind – und worauf es Berthold Vorbrink, der schweigend und mit wohlwollendem Interesse an seinem Pult sitzt, mit seinem Wortequiz in Wirklichkeit ankommt: Von wegen Kontrolle und Leistungsdruck – hier geht es ums Kommunizieren! Darum, gemeinsam Spaß an geistigen Herausforderungen zu entwickeln. Sich auszutauschen, sich gegenseitig zu inspirieren – und vor allem: keine Angst vor dem Vergessen, sondern Freude am Üben zu bekommen. „Beim Gedächtnistraining ist tatsächlich der Weg das Ziel“, betont Kursleiter Vorbrink: „Die komplette Lösung – in diesem Fall also: alle Teekesselchen herauszufinden, ist zweitrangig.“ Viel wichtiger sei es, sich mit der Aufgabe zu beschäftigen – „Je intensiver und lustvoller, desto besser.“

Das Denken in Schwung halten

Ob Wortpaare oder selbst gereimter Vierzeiler, Bilderrätsel, Bewegungsspiel oder Zahlenpuzzle: Wer seine grauen Zellen vielseitig und regelmäßig anregt, der hält sein gesamtes Denken in Schwung. Und je entspannter die Stimmung beim Üben, desto lieber macht das eigene Gehirn dabei mit. „In so einem Kurs mit lauter Gleichgesinnten macht das in der Regel am meisten Spaß“, spricht Vorbrink aus Erfahrung. „Aber man sollte schon auch zuhause für sich weiter trainieren.“ Die Übungen, die er vorbereitet hat, sprechen die unterschiedlichsten Funktionen des Gehirns an: Konzentrations- und Merkfähigkeit. Assoziatives Denken. Die Fähigkeit, komplexe Inhalte zu strukturieren. Die Flexibilität, auch einmal die geistige Richtung zu ändern oder um die Ecke zu denken. „Ganz allgemein versuche ich, die Kreativität und die Fantasie meiner Kursteilnehmer zu trainieren.“

„Auch ein Kanzler bringt seine Kohle selber mit“

Ein Beispiel gefällig? Der Gedächtnistrainer gibt verschiedene Wörter vor – Mann, Tee, Küche, Hustenbonbon, Thermometer – und jeder denkt sich eine kleine Geschichte aus, in der alle diese Wörter vorkommen. Beobachtung: Je verrückter, unwahrscheinlicher und also fantasievoller die Erzählung ausfällt, desto leichter und länger kann man sie sich merken. „So können Sie auch mit ihrer Einkaufsliste verfahren“, schlägt Vorbrink vor: „Oder sie bilden einen Satz aus den Anfangsbuchstaben der Dinge, die sie besorgen wollen – das reicht oft schon.“ Und während ich noch darüber nachsinne, welches kuriose Abenteuer Marmelade, Käse, Dinkelmehl, Katzenstreu und Spülmittel miteinander erleben könnten, gibt uns der 59-jährige Ibbenbürener eine letzte Eselsbrücke mit auf den Weg: „Auch ein Kanzler bringt seine Kohle selber mit.“ Die Anfangsbuchstaben der Wörter ergeben die Anfangsbuchstaben sämtlicher Kanzler der Bundesrepublik in der richtigen Reihenfolge.

Mittendrin, Gedächtnistraining, Gedächtnis, Gehirn, Senioren