Ein Wurmloch ins Universum der Kunst

48 Objekte aus den vergangenen 642 Jahren laden zum Betrachten ein. Darunter Arbeiten von so namhaften Künstlern wie Gerhard Richter, Sigmar Polke und Yves Klein, Francis Bacon und Georg Baselitz. Fotos (3): Ulrike Havermeyer

Mitten in Mettingen, zwischen rot geklinkerten Einfamilienhäusern und akkurat bepflanzten Vorgärten, ist ein faszinierendes Paralleluniversum voller spektakulärer Kunst entstanden: provozierend, inspirierend und weltoffen – aber vor allem: zugänglich!

Vielleicht lag es an ihrem, aus westfälischer Sicht, eher distanzierten Auftreten, an ihrer buchstäblich verschlossenen Art, dass die Mettinger, allesamt eher bodenständige Gemüter, die Neue in ihrer Nachbarschaft über all die Jahre noch nicht wirklich ins Herz geschlossen hatten. Die bisher etwas verhaltene Beziehung zur Draiflessen Collection dürfte sich allerdings mit der aktuellen Ausstellung „Dem Bild gegenüber“ für viele wohl grundlegend ändern, denn das gediegene, kleine Museum baut potenzielle Hemmschwellen nun systematisch ab: Erstmals seit seinem achtjährigen Bestehen hat das Haus reguläre Öffnungszeiten eingerichtet. Wer Lust auf eine spontane, unkomplizierte Stippvisite im kurzweiligen Kosmos der Kunst hat, dem stehen ab sofort – mittwochs bis sonntags von 11 bis 17 Uhr und an jedem ersten Donnerstag im Monat von 11 bis 21 Uhr – die Türen weit offen.

Moderne Architektur vor dörflicher Kulisse: die Ausstellungshalle der Draiflessen Collection in Mettingen. Foto: Draiflessen Collection/Henning Rogge

Wo die ganz Großen der Branche zu sehen sind

Das lasse ich mir natürlich nicht zweimal sagen, spaziere an Kirschlorbeer- und Hainbuchenhecken entlang die Georgstraße hinauf – und schleuse mich ein auf einen Trip zu den fernen und nun gleichzeitig so angenehm naheliegenden Gefilden verstörender Skulpturen, vielschichtiger Gemälde und anregender Installationen. Und wer denkt, dass das am Nordhang des Schafbergs gelegene Wurmloch in das Universum der Kunst den erwartungsvollen Gast lediglich bis in die nächste Provinz transportiert, irrt gewaltig: Im Herzen der Mettinger Fangkampsiedlung sind bis zum 28. Januar 2018 die eindrucksvollen Werke von einigen ganz Großen der Branche zuhause: Gerhard Richter, Sigmar Polke und Yves Klein, Francis Bacon und Georg Baselitz drücken dem beschaulichen Dorf mit markantem Nachdruck ihre Stempel auf.

Was rührt mich an? Was stößt mich ab?

Aber, keine Angst vor großen Namen: Denn trotz der unbestreitbaren Exklusivität der Exponate, wollen Museumsdirektorin Corinna Otto und ihre beiden Kuratorinnen Olesja Nein und Barbara Segelken den Ball flach halten und – sich aus lauter Ehrfurcht und Respekt auftürmende – Mauern erst gar nicht aufkommen lassen. „Wir halten uns zunächst bewusst mit kunstwissenschaftlichen Erklärungen zurück“, sagt Corinna Otto, „denn im Mittelpunkt unserer Ausstellung soll der Besucher selbst und sein persönlicher Moment des Erlebens stehen.“ So lautet die zentrale Frage denn auch nicht: ,Was will der Künstler uns damit sagen?‘, sondern vielmehr: ,Was regt sich eigentlich in meinem Inneren, wenn ich das Kunstwerk wahrnehme?‘. Welche Gefühle, welche Assoziationen lösen die 48 Objekte aus den vergangenen 642 Jahren in mir aus? Was ist es, das mich an dem einen Bild schockiert, an dem anderen aber bis ins Herz anrührt?

Eine Kathedrale im Kopf

Spannend, was die so nüchtern anmutende Klanginstallation aus 40 Lautsprechern im Inneren des Besuchers auslöst…

40 Lautsprecher, acht Neonröhren, zwei Holzbänke. Etwas ratlos stehe ich im nüchternen Ambiente eines gedrungenen, schallisolierten Zimmers. Doch dann dringt mit einem Mal aus jedem der Lautsprecher eine einzelne Chorstimme – und der glockenhelle Gesang hebt mich, unwiderstehlich wie das gewaltige Volumen eines Heißluftballons, bis in die erhabenen Höhen kristallklarer Klangwelten. Was macht die Installation von Janet Cardiff hier mit mir? Es ist, als spanne sie eine kathedralenhafte Weite und eine Freiheit in mir auf, die in der schnöden Realität so gar nicht existent sind. Ein berührender Moment, den mir die Kunst da beschert…

In der Gesellschaft der schwebenden Riesen

Wenig später drifte ich, rücklings auf weiche Kissen gebettet, durch eine tiefschwarze Unendlichkeit. Über mir ziehen Schwärme ätherisch anmutender Wesen in majestätischer Gelassenheit dahin, lassen sich durch nichts und niemanden aus ihrer Ruhe bringen. Begleitet werden sie von sphärischen, schwer zu ortenden, aber auf beinahe mystische Weise beruhigenden Tönen. In der Gesellschaft dieser sanften Riesen könnte ich den Rest des Tages verweilen, meine Gedanken vom geschmeidigen Sog der Bilder einfach davon treiben lassen… Die schwerelosen Organismen, die mich da zum Meditieren animieren, sind in Wirklichkeit winzige Meeresbewohner, sogenannte Manteltierchen (Tunicata) – und der phantastischen Installation von Yael Reuveny und Clemens Walter liegen im Film festgehaltene, naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse zugrunde.

Durch die kosmische Dunkelheit schwebt majestätisch ein Schwarm aus Manteltierchen. Die Videoinstallation sollte vorzugsweise auf dem Rücken liegend genossen werden.

Einladung zum Dialog

„Indem wir es vermeiden, den Besucher mit Informationen über die kunsthistorische Einordnung der Werke zu beeinflussen, wollen wir auch eine Emanzipation des Betrachters erreichen“, erläutert Corinna Otto: „Da ist keiner, der dem Besucher sagt, das ist richtig, das ist falsch – wir bieten ihm stattdessen an, sich eigenständig und individuell mit dem Bild oder der Installation auseinanderzusetzen.“ Am meisten Spaß mache das übrigens im Dialog mit einer Begleitung, auf die das Exponat ja möglicherweise ganz anders wirke. „So können sehr anregende Gespräche entstehen“, ist die Museumsdirektorin zuversichtlich. Wer allerdings doch mehr Daten, Zahlen und Fakten zum Kunstgenuss benötigt, fragt entweder einen der Guides, findet Grundsätzliches über die Werke im kostenlos verteilten Flyer oder ausführliche Besprechungen im 125 Seiten umfassenden Ausstellungskatalog.

Die Neue in der Nachbarschaft…

Bevor ich mich auf einen Plausch zu den mittelalterlichen Altarfresken und den zeitgenössischen Fotografien begebe, lasse ich mich noch ein paar wohlige Momente lang von James Turrells farbensprühender Lichtdusche umbrausen. Und während die Photonen auf mich prasseln, wird mir schlagartig bewusst, dass ich mich hier bei der vermeintlich so spröden Neuen in der Mettinger Nachbarschaft längst schon so vertraut aufgehoben fühle wie bei einer alten Bekannten.

(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 25.10.2017)

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