„Wir pflegen nicht nur die Patienten“

"Zwischen dem Patienten, dessen Angehörigen und dem Pfleger sollte ein absolutes Vertrauensverhältnis bestehen." Foto: Ulrike Havermeyer
Unterwegs mit dem ambulanten Pflegedienst: „Zwischen dem Patienten, dessen Angehörigen und dem Pfleger sollte ein absolutes Vertrauensverhältnis bestehen.“ Foto: Ulrike Havermeyer

Der erste Fall ist einfach: Duschen. Eincremen. Anziehen. Kompressionsverbände anlegen. Axel Münch kniet auf dem Teppich und bandagiert dem alleinstehenden Rentner gewissenhaft die Unterschenkel. Der 89-Jährige berichtet derweil von seinen Erfahrungen aus dem Krieg. Mal mit Entsetzen. Mal mit Kopfschütteln. Durchweg mit Akribie. An diesem Morgen begleite ich die ambulante Alten- und Krankenpflege der Diakoniestation Westerkappeln auf ihrer Runde.

„Bis heute Abend dann!“

Der, dessen Beine nun gewickelt werden, war Pilot damals. Und hat mithin eine Menge nicht eben Uninteressantes erlebt. Der Senior erzählt. Ich höre zu. Axel Münch pflegt. Kontrolliert die Medikamente. Tätigt Einträge in die Patientendokumentation. Der Rentner fliegt gerade einen Einsatz über Norwegen. Ich lausche gebannt. Münch kniet vor dem samtgrünen Sofa, zieht dem Mann nun behutsam dessen beige Hausschuhe über die derben Wollstrümpfe und prüft ein letztes Mal, ob sein Patient planmäßig versorgt ist. Dann blickt er auf die Zeitanzeige seines Smartphons – die veranschlagten zwanzig Minuten sind längst überschritten: Mit freundlicher, aber entschlossener Stimme beendet er die Unterhaltung: „Bis heute Abend dann!“

 Waschen. Cremen. Wunden versorgen. Kompressionsverbände anlegen

Bei unserem nächsten Einsatz öffnet die Tochter der Patientin die Tür. Eine filigran wirkende, blasse, grauhaarige Frau, die Axel Münch mit einem herzlichen Lächeln begrüßt. „Wie geht es der Mutter heute?“, fragt Münch. Ein kurzes Gespräch folgt. Kopfnicken. Seufzen. Die Patientin, 90 Jahre, kann sich kaum noch bewegen und ohne Hilfe ihr Bett nicht verlassen. Sie freut sich, als der versierte Pfleger sich über sie beugt und ihr sanft über das Gesicht streicht. „So ein schöner Morgen“, sagt Münch, „da wollen wir mal zusehen, dass wir Ihnen was Hübsches anziehen.“ Es folgt: Urinbeutel ausleeren. Vorlage wechseln. Waschen. Cremen. Wunden versorgen. Kompressionsverbände anlegen. Anziehen. Mit gekonnten Griffen den steifen Körper der alten Dame zunächst auf die Bettkante und anschließend in den Rollstuhl bugsieren. Medikamentenkontrolle. Eintrag in den Patientenordner. Blick auf das Smartphone. Vorgegebenes Zeitbudget: 35 Minuten.

Nicht zu unterschätzen: die psychische Belastung der Pflegenden

Jeden Morgen hilft Münch oder einer seiner Kollegen dabei, die Seniorin auf ihren Tag vorzubereiten. Die restliche Zeit übernimmt die Familie die Betreuung. Seit vier Jahren. Dreimal in der Woche verbringt die 90-Jährige zudem einige Stunden in der Tagespflege. Zu besonderen Anlässen nehmen ihre Angehörigen die Kurzzeitpflege in Anspruch. „Das ist hier alles vorbildlich geregelt“, lobt Münch. Und doch – als ich die immerhin auch schon 67-jährige Tochter der Patientin frage, ob die körperliche oder die psychische Belastung des Pflegens höher sei, schluckt sie. Wendet sich kurz ab. Atmet schneller. Und mit einem Mal ahnt man den enormen Druck, der auf den pflegenden Angehörigen lastet. „Die psychische“, sagt sie schließlich. Immer präsent sein zu müssen. Kaum noch etwas gemeinsam mit ihrem Mann unternehmen zu können, weil immer einer von ihnen zu Hause bleiben müsse. Axel Münch steckt das taktgebende Smartphone nun unbesehen in die Tasche. Er hört zu. Tröstet. Gibt Ratschläge.

„Zu viel betriebswirtschaftliche Überlegungen tun der Pflege nicht gut“

„Wir pflegen ja nicht nur die Patienten“, sagt er später. „Auch das soziale Umfeld, die Familie mit ihren Sorgen und Problemen im Umgang mit der Situation gehören dazu.“ Er sei so gesehen sehr froh, dass er bei der Diakonie auf christlicher Grundlage arbeiten könne, sagt Münch. Zu viele betriebswirtschaftliche Überlegungen täten der Pflege nicht gut. Er schüttelt den Kopf. Vor der eigenen Zukunft, räumt er ein, empfinde er dennoch eine gewisse Besorgnis: „Ich bin ja auch schon 54 Jahre – wie soll ich das erst mit über 60 schaffen?“ Münch startet neuerlich den weiß-blauen Kleinwagen. Ein schneller Blick auf das allwissende Smartphone, das bereits die Informationen für unseren nächsten Besuch bereit hält. Wir rauschen über den Asphalt. Mit was beliefert die Flotte der Diakonie ihre Kundschaft? Menschlichkeit auf Rädern? Kleine Päckchen oder je nach Pflegestufe stattliche Pakete an kompetenter Versorgung – frankiert mit einer Mischung aus Eile und Effizienz?

Das taktgebende Smartphone immer im Blick

Fünfzehn Patienten besuchen wir an diesem Vormittag. Manche sind jünger als Münch, die meisten deutlich älter. Axel Münch wickelt Beine. Misst Blutzuckerspiegel. Verabreicht Medikamente. Wäscht Gesichter und Leiber. Hört zu. Muntert auf. Kniet. Beugt sich über. Bückt sich hinab. Hebt. Stützt. Begleitet. Zeigt sich im Laufe der Runde mehr und mehr genervt beim Blick auf das Smartphone. „Leg das Ding weg!“, schimpft ihn ein 95-jähriger ehemaliger Landwirt aus – und lacht versöhnlich. Axel Münch hat ihn soeben für den Tag gerüstet – geplante Zeit: zwanzig Minuten – und ihn, ganz in Grün gekleidet, in seinem Rollstuhl ans Fenster geschoben. Die Wände der kleinen Stube zieren diverse Urkunden: Verdienstnadel des Deutschen Jagdverbands. Treuenadel des Deutschen Jagdverbands. Ehrennadel des Deutschen Jagdverbands. Auf der Fensterbank liegt ein Fernrohr. Jenseits der Glasscheibe das ehemalige Revier. „Zu viele Rehe“, berichtet der Waidmann und deutet mit zitternder Geste Richtung Maisacker, „eine Junghäsin und zwei alte Rammler.“ Axel Münch sieht auf sein Smartphone und seufzt bedauernd. Und auch ich würde viel lieber noch bleiben, um mir die Geschichten des alten Herrn aus einem langen und offenbar überaus rustikal gelebten Leben anzuhören. „Ja, ja – ich weiß schon: Ihr müsst weiter“, sagt der Rentner und lächelt tapfer: „Nützt ja nichts.“

Und vielleicht ist es vor allem dieses Gefühl, das Menschen wie Axel Münch auch nach Dienstschluss in den Knochen hängen bleibt und den Job so schwer macht: Die bohrende Ahnung, den Menschen, die er da versorgt und begleitet, nicht die Zeit und die Aufmerksam zukommen lassen zu können, die ein jeder von ihnen verdient hätte.

(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 11.06.2014; Westfälische Nachrichten, 14.07.2014)