Alles ganz Isie – die Tage der Entschleunigung

Die Drei von der Tierretter-Bande: Ernesto, Emma und Luise (von links) haben ihre Mission erfüllt und ein neues Zuhause für Isie, die Rotwangen-Schildkröte, gefunden.Westerkappeln, Konto-Nr. 3511078700, Blz. 40361906
Die Drei von der Tierretter-Bande: Ernesto, Emma und Luise (von links) haben ihre Mission erfüllt und ein neues Zuhause für Isie, die Rotwangen-Schildkröte, gefunden. Foto: Ulrike Havermeyer

Das ganze Elend fing mit einer Radtour an. Gemächlich ging es zwischen Mähwiesen und Maisäckern über geschotterte Wege, als die neunjährige Emma urplötzlich auf die Bremse trat: „Guck mal! Eine Wasserschildkröte! Die gibt es bei uns doch gar nicht …“ Emma ist eine leidenschaftliche Tierretterin voller jugendlichem Idealismus. Gemeinsam mit ihrem Bruder Ernesto verfolgt sie eisern die Mission: „Jedes Tier soll glücklich sein!“ Vom-Fahrrad-springen und „Die müssen wir retten!“-rufen war eins.

Aus einem Gartenteich entwischt?

Emma hatte zweifellos Recht: Wasserschildkröten gehören nicht zur heimischen Fauna. Vielleicht war sie ja aus einem Gartenteich entwischt? Doch hier gab es nur Felder, Gebüsche und weite Landschaft. „Die ist bestimmt ausgesetzt worden“, befand das Mädchen kurzerhand, drückte das skeptisch und leicht überrumpelt dreinblickende Tier an sein Herz und gurrte: „Ich nenne sie Isie.“

Wohin mit dem Reptil?

Isie wurde im Gepäckkörbchen verstaut – und ab ging es nach Hause. Nun musste nur noch eine Antwort auf die entscheidende Frage gefunden werden: Wohin mit dem Reptil? Vielleicht in das Gehege mit den Fundschildkröten des Osnabrücker Zoos: In einem seichten Becken gleich neben den Klammeraffen dümpeln dort träge Dutzende von Isies Artgenossen. Diese Lösung lag irgendwie nah. Isie war schließlich nicht Emmas erster unangemeldeter Gast – und immer hatte sich der Osnabrücker Zoo als unkomplizierter Helfer erwiesen: Bei dem kleinen Turmfalken mit dem gebrochenen Flügel. Oder bei dem zerzausten Schleiereulen-Küken. Und ebenso bei dem orientierungslosen Nymphensittich, der eines Tages verwirrt um den Birnbaum pirouettiert war.

Wenn das Schicksal leise kichert …

Zunächst aber erhielt Isie ein provisorisches Nachtlager: eine zur Hälfte geflutete Regenwanne mit ein paar dicken Steinen darin, auf dass die Schildkröte es bequem habe. Das Schicksal begann leise zu kichern. Anruf beim Zoo am nächsten Morgen. Auf unseren Bericht folgte ein langes Schweigen. Und dann der Rat, dass es wohl das Beste sei, das Tier einfach dort wieder laufen zu lassen, wo man es gefunden habe. Isie wieder aussetzen? Das wäre nicht nur gemein, sondern auch illegal. Na gut, dann könne man gerne nochmal mit dem Zoodirektor persönlich reden. Der sei aber erst in zwei Stunden zu erreichen.

Hunger? Ja. – Fressen? Nein!

Gemächlich spaziert die Schildkröte durch den Garten.
Gemächlich spaziert die Schildkröte durch den Garten.

Zeit genug, um Isie zu füttern. So sanftfüßig wie hartnäckig setzte sie sich auf dem Rasen in Bewegung, betrachtete nachdenklich das frische Grün, fraß jedoch nichts. Zweiter Anruf beim Zoo. Ja, der Direktor sei eingetroffen. Nein, er sei nicht zu sprechen – er befinde sich in einer Konferenz und rufe zurück. Isie betrachtete andächtig jedes Löwenzahnblättchen, das vor ihrem grazilen Näschen geschwenkt wurde. Sie ruhte in sich und strahlte eine nahezu therapeutische Zufriedenheit aus. Fraß aber keinen Happs.

„Damit kennst du dich nicht aus“

Die Tierretter-Kinder stürmten heran. „Mama, damit kennst du dich nicht aus“, gaben sie geschäftig zu verstehen. „Isie möchte erst etwas Auslauf, bevor sie frisst.“ Emma schnappte sich die Schildkröte und schleppte sie behutsam durch den Garten, während ihr Bruder ihr Löwenzahnblatt um Löwenzahnblatt in den Schlund stopfte. Isie schnappte angeregt und begann genießerisch zu schmatzen.

Eine klare Abfuhr vom Zoo

Der Zoodirektor rief nicht an. Also ein dritter Versuch – der sich als klare Abfuhr erwies: Der Zoo könne seine eigenen Tiere bereits stapeln und nehme auf gar keinen Fall weitere Wasserschildkröten auf. Aber wozu gibt es Tierheime? Zum Beispiel in Lengerich: Nein, erklärte die geduldige Dame am Apparat, sie sei nicht zuständig. Westerkappelner Bürger müssten sich an das Tierheim in Osnabrück-Hellern wenden. Die Kollegin aus Niedersachsen keuchte nur gehetzt, dass sie beim besten Willen keine Wasserschildkröten aufnehmen könne. Dazu habe sie einfach nicht die entsprechenden Räumlichkeiten. Man solle sich an den Veterinärdienst des Kreises wenden – vielleicht gebe es spezielle Auffangstationen.

Wer ist zuständig?

Wieder eine Dame. Es sei auch ganz sicher keine Schnappschildkröte? Isie eine Schnappschildkröte? Nein, Emmas Gast war kein gefräßiges, aggressives kleines Raubtier. Dank ihrer partiell tiefroten Färbung konnten sogar Laien erkennen, dass sie den Rotwangen-Wasserschildkröten zuzurechnen war. Nun denn, befand die Dame vom Veterinärdienst, müsse das Tier – wenn man denn tatsächlich jede Schnappschildkrötengefahr ausschließen könne – dem örtlichen Ordnungsamt übergeben werden. Dieses sei per Gesetz zuständig für Fundsachen. Auch für lebendige. Ein Blick auf die Uhr: Schon nach vier. Im Westerkappelner Rathaus war nur noch der Anrufbeantworter aktiv. Und wie würde die Lösung des Ordungsamts wohl aussehen? Schließlich hatte das Tierheim Hellern bereits vehement zu verstehen gegeben, dass es nicht der geeignete Ort für eine Wasserschildkröte sei. Im Garten steckten Ernesto, Emma und Isie verschwörerisch die Köpfe zusammen.

Tage voller kontemplativer Entschleunigung

16 Stunden, fünf Löwenzahnblätter und drei Möhrenscheiben später, war das Westerkappelner Ordnungsamt wieder besetzt. Eine Rotwangen-Wasserschildkröte? Hmmm…, da müsse er sich erst einmal schlau fragen, gestand der freundliche Herr am Telefon. Man werde sich melden. Ein weiterer Tag kontemplativer Entschleunigung brach an. Dann das finale Gespräch: Er habe alles geregelt, erklärte der Mitarbeiter des Ordnungsamtes. Die Schildkröte könne nunmehr beim Tierheim in Hellern abgeben werden. „Aber … die können doch gar keine Schildkröten aufnehmen…?!“ – „Können vielleicht nicht. Wollen vielleicht nicht“, orakelte der Mann: „Aber: Sie müssen!“ Die Gemeinde habe einen entsprechenden Vertrag – und der müsse eben eingehalten werden.

Ende gut – alles gut!

Irgendwie war die Stimmung daraufhin nicht gut. Die Tierretter-Kinder blickten vorwurfsvoll. Isie starrte aus gelb-grünen Augen ins Leere. Die Tierretter-Kinder sagten, sie müssten mal telefonieren und verschwanden mit konspirativer Miene in ihrem Zimmer, um kurz darauf breit lächelnd wieder aufzutauchen: Sie hatten ihre Tierretter-Freundin Luise kontaktiert, die wiederrum von einer Tierretter-Familie wusste, in deren Garten sich ein fix und fertig vorbereiteter Schildkrötenteich befand, in dem ein Schwarm Goldfische auf die Gesellschaft von – na, wem wohl, wartete? Noch am selben Nachmittag nahm Isie ihr neues Zuhause in Augenschein – mit einem zufriedenen PLATSCH verschwand sie zwischen üppigem Seerosenbewuchs. Wieder einmal hatten die Tierretter ihre Mission erfüllt.