Wenn sich der Jaguar durch den Maisdschungel frisst

Durch ein Meer aus welken Blättern und reifen Kolben lenkt Jens Hoge den ‚Jaguar‘. Wenn es gut läuft, frisst sich der Feldhäcksler durch rund 2,5 Hektar Mais pro Stunde.
Durch ein Meer aus welken Blättern und reifen Kolben lenkt Jens Hoge den ‚Jaguar‘. Wenn es gut läuft, frisst sich der Feldhäcksler durch rund 2,5 Hektar Mais pro Stunde. Foto: Ulrike Havermeyer

Rentner, die mit ihrem Dackel Gassi gehen, halten inne. Junge Mütter parken ihre kleinkindbeladenen Buggys und staunen mit dem Nachwuchs um die Wette. Joggende Mittdreißiger erstarren in der Bewegung: Wenn früh am Morgen der Jaguar durch den Dschungel gleich neben dem Bürgersteig bricht, dann ahnt auch der Nichtlandwirt, dass der regionale Ackerbau große emotionale Momente birgt. Die herbstliche Maisernte, zu der sich die stählernen Giganten – vom 460-PS-starken Feldhäcksler, Typ ‚Jaguar Speedster‘, bis zum viele Tonnen schweren Allrad-Schlepper – treffen, gehört zweifellos dazu.

40 Fußballfelder Winterfutter

Morgens um sieben hat die Ernte längst begonnen. Norbert Lamping stiefelt über den flockigen Hügel. Einen gelben Plastikrechen in der Hand, formt der Landwirt aus Alt-Lotte den fein gehäckselten Futtermais zu einer sauberen Abschlusskante. Ein paar Meter neben ihm erledigt der Walzentraktor das Grobe – und, zugegeben, auch das Meiste: Mit einem riesigen Planierschild ebnet der ‚New Holland‘ die Winternahrung für Lampings Mastbullen ein. Der rund 14 Tonnen schwere Schlepper verdichtet die herb duftende Masse unter seiner breiten Zwillingsbereifung. 28 Hektar Mais – umgerechnet eine Fläche von etwa 40 Fußballfeldern – verwandeln sich hier in zwei kompakte Silagehaufen.

Mit offenem Mund und großen Augen

Im Fünf-Minuten-Takt sorgen drei Transportgespanne, die zwischen Maisacker und Hofstelle hin und her pendeln, dafür, dass beim Planieren und Harken, Schaufeln und Rangieren nur ja kein Leerlauf entsteht: Mit jedem Silagewagen landen etwa 40 Kubikmeter Mais vor Norbert Lampings gelbem Rechen und den Frontladerschaufeln seiner Mitstreiter: Nachbarn, Bekannte und die eigene Familie packen mit an, um das Großereignis zu stemmen. Lampings Sohn Christian, einer der drei Gespannfahrer, nimmt mich auf seinem Schlepper mit zum rund fünf Kilometer entfernten Maisacker. Denn der Star der Maisernte, der Leistungsträger, der Publikumsliebling ist doch unbestritten der Feldhäcksler, der flink und wendig durch den bis zu 3,50 Meter hohen Stangenwald aus Maispflanzen manövriert und sich mit seinem furchteinflößenden Gebiss eine Schneise durch die Vegetation frisst. Unter den bohrenden Blicken der Rentner und Hausfrauen, der Jogger und der kleinen Jungs stolpere ich über das Stoppelfeld auf die vierräderige Raubkatze zu, erklimme die Außenleiter des ‚Jaguar‘ und zwänge mich in die schallgeschützte Kabine. In der gläsernen Machtzentrale der Maisernte begrüßt mich Jens Hoge. Der 45-jährige Servicetechniker bändigt seit mehr als 25 Jahren die Feldhäcksler des Lohnunternehmers Friedrich-Wilhelm Wienkämper aus Wersen. Nein, er komme nicht vom Bauernhof, erklärt er mir. „Ich bin einer von denen, die als Kind mit offenem Mund und großen Augen am Ackerrand gestanden haben.“

Acht Reihen Mais auf einen Happs

Hoge versorgt mich mit technischen Details: Sechs Meter breit ist das gewaltige Gebiss, in dem acht Reihen Mais gleichzeitig verschwinden. Ich starre auf das Meer aus welken Blättern und reifen Kolben, durch das der Häcksler in bedächtigem Tempo schnurrt. Vor uns knicken die Pflanzen wie lautlos ab, bauschen sich in einer Welle aus Stängel-Wirrwarr und werden in die zentrale Messertrommel gezogen, um dann wenige Sekunden später als sieben Millimeter lange Schnitzel durch die „Pfeife“ auf den Silagewagen geblasen zu werden. „Wenn es gut läuft“, sagt Hoge, „schafft der Häcksler zwischen zweieinhalb und drei Hektar Mais pro Stunde.“ Gut laufen heißt: Trockenes Wetter, günstig zugeschnittene Felder, ein eingespieltes Team von Fahrern und keine Fremdkörper im Mais, die die Technik lahm legen.

Auf den Zentimeter genau lenkt Hoge den Jaguar an den Gartenzäunen der unmittelbar neben dem Acker gewachsenen Siedlung entlang, vorbei an Entwässerungsgräben, Garagenwänden und Koniferenhecken. Immer auf Tuchfühlung folgt ihm das Gespann aus Schlepper und Silagewagen: Perfekte Abstimmung ist alles. Es geht auf Mittag zu. Wenn sich das Wetter hält, vermutet der 45-jährige Wersener, dürften die 40 Fußballfelder von Norbert Lamping am späten Nachmittag abgeerntet sein. Und dann – Feierabend? Von wegen! Dann geht es nahtlos weiter bei Lampings Kollegen Hendrik Roloff: Rund um dessen Hof warten die nächsten 35 Hektar, sprich: 50 Fußballfelder voller Mais darauf, von Hoge und seinem Jaguar verschlungen zu werden.

(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 10.2014; Westfälische Nachrichten, 10.2014)