Meditieren im Museum oder: Die Kunst des Yoga

Atmen, schauen, nicht bewerten: Das neue Angebot von LWL-Mitarbeiterin Annette Leyendecker (hinten rechts), Kunstwerke yogisch zu betrachten, fand bei der Premiere – unter anderem vor dem Gemälde „Documenta III“ von Emil Schumacher – großen Anklang. Foto: Ulrike Havermeyer

Einfach mal die Augen schließen im Münsteraner LWL-Museum für Kunst und Kultur. Sich auf den Boden niederlassen und im Yogasitz zur Ruhe kommen. Nach innen blicken. Atmen. Als Teilnehmerin des Workshops „Wie beeinflusst unsere körperliche Haltung die Wahrnehmung von Kunst?“ tue ich Dinge, die ich bis dahin für verboten hielt, und lote Perspektiven aus, die mir zuvor verwehrt blieben.

Selten habe ich so viel Spaß bei einem Museumsbesuch gehabt. Und vielleicht noch nie bin ich den Kunstwerken so nahe gekommen, habe sie so unvoreingenommen betrachtet und so bereitwillig an mich herangelassen. Ob das tatsächlich an der yogischen Wahrnehmungsweise, am spürenden Schauen liegt? Oder spielt auch das befreiende Moment eine Rolle, festgefahrene bürgerliche Vorstellungen, wie eine gesittete Kunstbeschau abzulaufen habe, zu durchbrechen? Letzteres möchte ich – zumindest für mich – nicht ausschließen.

Eine friedliche kleine Kulturrevolte?

Aber eigentlich ist Annette Leyendecker Schuld an allem. Obwohl man es der zierlichen Kunstvermittlerin mit der sanftmütigen Ausstrahlung, die erst vor kurzem ihre Ausbildung zur Yogalehrerin absolviert hat, gar nicht ansieht, dass sie nicht nur bereit, sondern dank ihrer Yogi-Kräfte auch durchaus dazu in der Lage ist, eine friedliche kleine – aber in ihren Folgen gar nicht abzusehende – Kulturrevolte anzuzetteln.

Wissenschaftstheoretischer Sprengstoff

Nach ein paar Aufwärmübungen in der Sky-Lounge des Museums dirigiert sie die mental in sich ruhende Horde der Kursteilnehmer mit milder Stimme durch die Ausstellung. Die Botschaft, die die Museumspädagogin uns in einer ersten Lektion mit auf den Weg gibt, birgt bereits eine nicht unerhebliche Portion an wissenschaftstheoretischem Sprengstoff: „Betrachtet die Bilder, als würden sie wie eine Landschaft durch ein Zugfenster an euch vorbeiziehen“, animiert sie uns zu unkritischer Neutralität, „ist das Kunst oder nicht? Keine Ahnung, völlig egal – schaut hin, nehmt wahr was ihr seht, aber bewertet es nicht.“

Jedem Knochen in den Füßen nachspüren

Durch meine auf Halbmast herunter gelassenen Lider schieben sich das leuchtende Blau von Yves Klein und die satt-schwarzen Strukturen von Pierre Soulages, während ich beim gemächlichen Gehen jedem einzelnen Knochen in meinen Füßen nachspüre, mir der Sicherheit des Bodens unter mir bewusst werde und der Leichtigkeit der Luft, die mich umgibt. Ich atme. Ich schaue. Hin und wieder kreuzt ein verwunderter Passant mein Sichtfeld – und der Museumswärter hinten in der Ecke irrt, wenn er glaubt, ich hätte sein amüsiertes Kopfschütteln nicht bemerkt. Freundlich lächle ich zu ihm hinüber.

Im stabilen Meditationssitz

Die nächste Übung lanciert uns noch dichter in die Nähe eines vermeintlichen Publikums-Aufstandes heran. Im stabilen Meditationssitz verwurzeln wir uns im hölzernen Parkett des Saals vor Emil Schumachers opulentem Werk „Documenta III“, versperren durch diese, zugegeben raumgreifende yogische Ausrichtung allerdings den anderen Gästen ihren herkömmlichen Zugang zur Malerei. Einige bleiben interessiert stehen und scheinen die Gruppe selbst für eine Performance zu halten: die aufsehenerregende Kunst des Yoga.

Entspannter Weg zur Erkenntnis

Wir aber lassen stoisch unsere Blicke in kleinen Kreisen über die Leinwand vor uns schweifen und ruhen in unserer inneren Mitte. „Lasst euch ein auf die Stelle, die ihr gerade betrachtet“, fordert uns unsere Mentorin auf, „alles ist schon da, ihr müsst es nur erkennen.“ Und wenn jemand nichts erkennt? „Macht nichts“, lässt Annette Leyendecker erst gar keinen Erfolgsdruck aufkommen, „einfach ruhig weiteratmen. Seid großzügig, liebevoll und achtsam zu dem, was ihr wahrnehmt – und auch zu euch selbst.“

Geduldete menschliche Installation

Etwa zehn Minuten meditieren wir als geduldete menschliche Installation vor den abstrakten Pinsel- und Spachtelspuren Schumachers.  Das Ergebnis ist verblüffend: „Total schön und spannend“, freut sich eine Teilnehmerin, „ich habe Schmetterlinge am unteren Bildrand entdeckt.“ Auch einen Pinguin und die Silhouette Afrikas gibt die Textur des Bildes für manchen Betrachter her. Jemand anderes weist auf ungewöhnliche Reflexionen der Beleuchtung hin, die üblicherweise für eine stehende Standardrezeption auf Augenhöhe  ausgelegt ist.

Grünes Licht für neue Perspektiven

Auch die Gemälde von Sean Scully laden den Betrachter zu einer Reise in die Spiritualität ein. Foto: Ulrike Havermeyer

„Darf man so etwas auch in anderen Museen machen?“, hofft eine begeisterte Yogini auf die Erlaubnis, ihre neuen Erfahrungen künftig weiter ausdehnen zu dürfen. Annette Leyendecker überlegt kurz, nickt dann entschlossen und gibt – ein unergründliches, wertneutrales Lächeln auf ihren Lippen – grünes Licht für die alternative Kunstbetrachtung, jederzeit und allerorten: „Ich wüsste nicht, was dagegen spricht.“ Nach einem neuerlichen Moment der Stille schränkt sie dann allerdings doch ein: „Eure Yogamatten solltet ihr aber besser draußen lassen.“

Termine für angeleitete Führungen

Wer Lust auf eine angeleitete yogische Führung durch die Ausstellung des LWL-Museums in Münster hat, kann sich auf dessen Internetseite über die aktuellen Angebote informieren. Da der erste Workshop von Annette Leyendecker gleich mehrfach überbucht war, sollen in Kürze weitere Termine folgen.

(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 16. Oktober 2019)