Wenn der Glaube Sanddünen versetzt…

An was mag wohl Kuratorin Barbara Segelken glauben, wenn sie sich die (Toten-)Maske von Paul Thek anschaut? Die Mettinger Ausstellung setzt auf die Mündigkeit des Betrachters. Fotos (3): Ulrike Havermeyer

In der aktuellen Draiflessen-Ausstellung versetzt der Glaube Berge. Oder zumindest: eine Sanddüne. Raufende Engel tragen 1970er-Jahre-Schlaghosen. Und die Unendlichkeit verwandelt Sorgen und Zweifel in zuversichtliches Gelb.

Nur acht Exponate bilden den ersten Teil der Ausstellungs-Trilogie Glaube-Liebe-Hoffnung. Sie konfrontieren den Betrachter nicht bloß mit existenziellen Fragen, sondern laden auch dazu ein, sich dem Konzept der Slow Art zu öffnen.

Die Idee, sich auf wenige Objekte zu beschränken, sei möglicherweise gewagt, räumt Kuratorin Barbara Segelken freimütig ein. Ein Experiment. Eine Herausforderung für die Mettinger Ausstellungsmacher, aber vor allem: eine Chance für die Besucher. „Wir wollen den Kunstwerken ihren Raum und den Besuchern die Gelegenheit geben, sich intensiv mit jeder einzelnen Arbeit auseinanderzusetzen“, sagt Segelken – und lächelt dabei auffallend entspannt: Denn eine erste Zwischenbilanz deutet bereits an, dass diese Art der Präsentation „hier sehr gut funktioniert“.

Eine erschreckend flüchtige Beziehung

Lediglich elf Sekunden verbringe ein Betrachter im Schnitt vor einem Kunstwerk, zitiert die Wochenzeitung „Die Zeit“ im April 2012 eine Studie des Kulturwissenschaftlers Martin Tröndle von der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen. Um ihre Besucher zu einem achtsameren Kunsterlebnis zu bewegen, müssten die Museen mithin „kleiner, ruhiger und leerer werden“, schlussfolgert Die Zeit. Die Zukunft gehöre nicht länger dem „Blockbuster-Gedrängel“, sondern vielmehr „der Kontemplation“ – dem beschaulichen Sichversenken.

Ganz im Sinne dieser Slow Art setzt die Ausstellung in den weitläufigen Räumen der Draiflessen Collection daher statt auf sättigende Vielfalt auf die in dem Zeit-Artikel geforderte „Atmosphäre des Verweilens und der Intimität“. „Wir haben den Parcours bewusst überschaubar gehalten, damit das Gefühl des Gehetzt-Seins erst gar nicht entsteht“, erläutert  Kuratorin Barbara Segelken. Denn ähnlich wie die Besucher in einem Zoo, hätten auch viele Kulturinteressierte in einem Museum oft den Anspruch, sämtliche gezeigte Exponate abarbeiten zu müssen. Und dass das Abhaken einer kulturellen To-Watch-Liste in der Regel zulasten der Wahrnehmung von Ästhetik und Tiefe geht, dürften viele Kunstbeflissene aus eigener Erfahrung wissen.

150 Begriffe schweben über die Leinwand und laden zum Nachdenken ein.

Mit entsprechend viel Muße geleitet Segelken an diesem Abend die rund zwei Dutzend Gäste, die an der öffentlichen Führung teilnehmen, durch die Ausstellung. Gleich im Entree wird die Gruppe von einer üppigen Sitzlandschaft empfangen, die vor einer 14 Meter breiten Wandprojektion zum Entschleunigen einlädt. „Vergebung“, „Truth“, „Verschijning“ – rund 150 Begriffe schweben in Englisch, Niederländisch und Deutsch über die Leinwand. Und wer den Assoziationen nachhängen will, die beim Lesen dieser Wörter im eigenen Kopf aufsteigen, dem bleibt nichts anderes übrig, als sich Zeit zu nehmen. Die persönlichen Gedanken und Haltungen zu be- oder vielleicht sogar zu hinterfragen. Und schon ist man mittendrin im Thema der Ausstellung: An was glaube ich eigentlich? Und warum? Wie verbindlich ist dieser Glaube? Was bewirkt er?

Glaube an Veränderungen

Der 1959 in Belgien geborene Künstler Francis Alÿs glaubt beispielsweise an die Kraft der Gemeinschaft, wenn es darum geht, übermenschliche, scheinbar bis zur Unbeweglichkeit erstarrte Strukturen zu verändern. In seiner Installation dokumentiert er, wie er mithilfe von 500 Freiwilligen am Stadtrand von Lima eine Sanddüne an einem Tag um zehn Zentimeter versetzt. Nicht immer ganz so klar und leicht zugänglich sind die Botschaften der übrigen Exponate. Manchmal ist es ein Ringen und Raten. Oder ein vages Glauben daran, dass überhaupt eine Aussage dahintersteckt. Was wollen „Der Engel und sein Schatten“ von Michael Buthe oder das „Gerundete Gelb“ von Rupprecht Geiger uns sagen? Was lösen sie in uns aus? Was wollen sie uns glauben machen?

Segelken und ihr Team vertrauen auch hier auf die Mündigkeit des Betrachters. Wer dem Kunstwerk offen – und geduldig! – gegenübertritt, der wird früher oder später spüren, wie die Farben, die Formen oder auch das Befremdende der Darstellung die eigene Wahrnehmung anregt und die Fantasie zu neuen Verknüpfungen und Gedankenspielen inspiriert. Weil allzu viele Vorkenntnisse oder Hintergrundinformationen beim individuellen Genießen in Slow Art-Manier schon mal hinderlich wirken können, haben die Mettinger – wie bereits bei vorherigen Ausstellungen – auf ablenkende Erklär-Texte neben den Exponaten verzichtet. Fakten und Interpretationsangebote finden sich auf separaten Abreiß-Zetteln, die die Besucher nutzen können – oder auch nicht.

Viel Zeit zum Schauen bietet die Slow Art-Ausstellung.

Und wer auf weitergehende Informationen nicht verzichten möchte, kann sich an einer von drei Hörstationen ein Gespräch zwischen Museumsdirektorin Corinna Otto, Kuratorin Barbara Segelken und ihrem Team anhören, in dem sie ihre Vorstellungen des Ausstellungs-Konzeptes verdeutlichen. An einer weiteren Hörstation werden kunstwissenschaftliche Texte eingelesen, an der dritten Station lädt Musik zum Entspannen und Nachsinnen über das Gesehene ein.

Die Ausstellung „Glaube“ ist noch bis zum 18. August 2019 in der Draiflessen Collection in Mettingen, Georgstraße 18, zu sehen. Öffnungszeiten: mittwochs bis sonntags 11 bis 17 Uhr. Am 13. Oktober startet dann der zweite Teil der Ausstellungs-Trilogie: „Liebe“. Infos zu Führungen und zum Begleitprogramm auf www.draiflessen.com.

(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 07.08.2019)