Ein Mann, ein Stück: Helmut Thiele und der Kontrabass

Während die Spielzeit des Einakters etwa eine Stunde und vierzig Minuten beträgt, verbringt Helmut Thiele allein zwischen drei und vier Stunden mit dem Aufbau der Kulisse. Hinzu kommen Abbau, Transport und Einlagern der Requisiten. „Ein eher bescheidener Wirkungsgrad“, sinniert der Schauspieler. Wie gut, dass wahre Kunst anderen Gesetzen folgt als dem der Effizienz. Foto: NOZ/Thomas Osterfeld

Seit mehr als 30 Jahren hat Helmut Thiele – als einer von nur drei Schauspielern überhaupt – Patrick Süskinds Kontrabass, erschienen 1981, im Repertoire. Nicht zuletzt die von Thiele opulent gestaltete Kulisse verleiht der Inszenierung ihre besondere Note.

Wenn demnächst die Zuschauer wieder erwartungsvoll im Café Spitzenboden der Osnabrücker Lagerhalle Platz nehmen, dürften die ersten Lacher, amüsiertes Getuschel, wohlwollende Kommentare und geflüsterte Einsichten – „Guck mal – da!“, „Hast du schon gesehen..?“, „Ist das etwa…?“ – nicht lange auf sich warten lassen. Zwar tut sich auf der dezent beleuchteten Bühne lange Zeit rein gar nichts, in den Köpfen des Publikums aber umso mehr.

Stillleben mit Alkohol

„Schreiben hilft leben“, „Weniger Steuern zahlen“ oder „Meine Erfahrungen mit dem Marxismus“ lassen sich mit zusammengekniffenen Augen einige der Titel auf den vergilbten Buchrücken entschlüsseln, die sich in den Regalen auf der Bühne reihen. Im Sessel davor und über den Teppich verstreut liegen zerfledderte Notenblätter, speckige Zeitschriften und eingerissene Pappcover: Herbert von Karajan. Rudolf Schock. Mozart. Und natürlich: überall Alkohol! Ungezählte Bierflaschen – hier eine unter dem Tisch, dort drüben auf dem Hocker und – „Schau mal, is‘ ja der Wahnsinn: da hinten sind auch welche!“ – gleich noch drei weitere neben den Lautsprecherboxen…

Bier spielt eine wahrnehmbare Rolle im Bühnenbild. Foto: NOZ/Thomas Osterfeld

Das konfuse, überfrachtete, heruntergewirtschaftete Junggesellenzimmer des verschrobenen Kontrabassisten, in welches der Besucher wie ein unangemeldeter Gast hineingerät, funktioniert wie ein Suchbild. Wie eine Karikatur. Wie eine eigenständige, aus sich selbst heraus wirkende, kunstvoll arrangierte Installation: Aufregend intim. Von faszinierender Detailverliebtheit. Bestechend authentisch. Was kein Wunder ist, denn die meisten der Requisiten hat Helmut Thiele ganz unprätentiös aus seiner persönlichen Biografie direkt ins Theaterleben umgesiedelt.

Bühnenbild als Erinnerungsalbum

Womit das Bühnenbild im Laufe von mehr als drei Jahrzehnten – ihre gemeinsame Premiere haben Thiele und die Kontrabasskulisse 1985 in Coburg gefeiert – nicht nur immer mehr zu einem ganz persönlichen, dreidimensionalen Erinnerungsalbum für den 67-jährigen Schauspieler geworden ist, sondern auch den aufmerksamen Betrachter durch zeitgeschichtliches Kolorit und musealen Charme erfreut.

Erinnerungsstück aus Thieles Biografie: sein erstes Osnabrücker Telefon. Foto: NOZ/Thomas Osterfeld

Beispiele gefällig? Da wäre etwa das grüne Kabeltelefon, noch mit Wählscheibe und keck gedrehter Hörerschnur. Thiele wiegt den Apparat während des Aufbaus in seiner Hand und bedenkt ihn mit einem melancholischen Lächeln. „Das war unser erstes Telefon hier in Osnabrück“, verweist der Schauspieler auf den gemeinsamen Umzug mit seiner Frau und Kollegin Regina Neumann in die Hasestadt im Jahre 1986. Die erste Stereoanlage des in Wien geborenen und aufgewachsenen Mimen – „noch aus Studentenzeiten“ – ist ebenfalls fest gesetzt in der Riege der ehrwürdigen Statisten. Anders als in der Anfangszeit dient der Plattenteller allerdings nur noch als Attrappe – die Musik spielt Thiele inzwischen über einen MP3-Player ein.

Ipsens Kühlschrank

Ein weiterer verdienter Veteran im Ensemble ist der ausrangierte, jedoch noch voll funktionsfähige Kühlschrank, den ihm der langjährige Direktor des Instituts für Kommunalrecht der Uni Osnabrück, Professor Jörn Ipsen, seinerzeit überlassen habe. Mit der wohl betagtesten Technik innerhalb der Truppe wartet aber ganz sicher das fast schon antiquierte Röhrenradio auf, das Thiele aus dem Nachlass seines Vaters gerettet hat, und das seitdem Vorstellung für Vorstellung auf einem Ehrenplatz gleich neben der Karl-May-Gesamtausgabe thront.

Auch die Bücherregale sind mit den Jahren gealtert. Foto: NOZ/Thomas Osterfeld

Zwischen drei und vier Stunden dauert es, bis Helmut Thiele die Kulisse zumindest im Groben aufgebaut hat. Der Feinschliff erfolgt unmittelbar vor der Aufführung. „Die Leute sind immer ganz erstaunt wenn sie erfahren, dass ich das alles alleine mache“, sagt er und zuckt lakonisch mit den Achseln. „Die körperliche Betätigung macht mir Spaß und ich genieße den meditativen Charakter dieses Rituals.“

Zwischenlagerung im Container

Um die 400 Vorstellungen liegen mittlerweile hinter ihm und seinem Bühnenbild. Das heißt: 400 Mal raus mit den zusammenklappbaren Kellerregalen, dem abgewetzten Teppich, dem angeschlagenen Kühlschrank, dem schrömmeligen Sperrmüllbett, den Bananenkisten voller Bücher und dekorativem Schnickschnack, den vier Bierkisten – samt zumeist leerer oder mit alkoholfreiem Inhalt präparierter Krusovice-Flaschen, dem arg ramponierten Polstersessel aus dem Second-Hand-Möbelladen. Raus also mit dem kompletten Kontrabasszubehör aus dem Container, der im Osnabrücker Hafen als Lagerraum dient – und rein in den eigens dafür angemieteten Transporter, hin zum nächsten Aufführungsort. Verladezeit: etwa 40 Minuten.

Landauf, landab habe er „diesen wunderbaren Text, der ein Traum ist für einen Schauspieler“, schon gegeben, darunter auch in der Schweiz und in seiner Heimatstadt Wien, erzählt der freischaffende Künstler. Bis auf zwei Ausnahmen – abgespeckte Versionen in privaten Haushalten – stets umgeben vom gesamten, sich auf wundersame Weise kontinuierlich erweiternden Equipment.

Aufbau in der Nacht

Zum nächsten Tete-a-Tete mit seiner Kulisse kommt es für Helmut Thiele dann beim Ausladen und Schleppen. „Die Lagerhalle hat ja zum Glück einen Fahrstuhl, in den passen sogar die Bühnenwände hinein“, ist Thiele dankbar für jede Marscherleichterung, „die hat übrigens noch mein Onkel, der Tischler war, gebaut.“ Ist das Zeug erst einmal vor Ort angekommen, geht der eigentliche Aufbau los. In der Regel erfolgt der in der Nacht vor dem Kontrabass-Gastspiel. „Je nachdem, was für eine Veranstaltung am Vorabend läuft, fange ich meist so gegen 22 Uhr an.“

Für den Wecker gibt es eine Fernbedienung. Foto: NOZ/Thomas Osterfeld

Neben reiner Maloche – die Staffage wird mit Bolzen, Scharnieren und Schraubzwingen, Sicherheitsnadeln, Klebeband, Winkeln und Stützen möglichst stabil montiert – muss Thiele hier und da auch immer wieder spontan tüfteln, tricksen und improvisieren: Mal meutert die Fernbedienung für den Wecker. Oder der unter dem Teppich verborgene Schalter zum Auslösen der Telefonklingel streikt. Manchmal bricht auch ganz schlicht ein Holzbrett entzwei oder ein Regal steht schief.

Maschinenbaustudium hilft

„Da kommt es mir natürlich zugute, dass ich in Wien Maschinenbau studiert habe und ausgebildeter Diplomingenieur bin“, sagt Thiele und guckt ziemlich verschmitzt. Wie ein Diplomingenieur zur Schauspielerei komme? „Falsche Frage“, entgegnet er und formuliert stattdessen die richtige: „Warum studiert jemand, der unbedingt Schauspieler werden will, überhaupt erst Maschinenbau?“ Antwort: Die Eltern hätten ihm dringend angeraten, zunächst etwas Anständiges zu lernen. „Wie man sieht: ein guter Tipp“, greift er augenzwinkernd zum Schraubendreher.

Musikalische Größen wie Mozart, Beethoven, Liszt, Haydn und Tschaikowsky wachen über der Szenerie. Foto: NOZ/Thomas Osterfeld

Nach und nach füllen sich die Regale mit Büchern und der Kühlschrank mit Gerstensaft. Mit akribischer Akkuratesse drapiert Thiele die Gipsbüsten von Mozart und Beethoven, Liszt, Haydn und Tschaikowsky auf ihren Beobachtungsposten hoch über der Szenerie. „Die Komponisten sollen ein Auge auf die Vorstellung haben“, sagt der Klassik-Freund. Gerne hätte er auch Wagner dabei, vielleicht etwas entstellt mit Augenklappe – aber der Stand auf dem Osnabrücker Weihnachtsmarkt, bei dem er die illustre Gesellschaft sukzessive gekauft habe, sei mittlerweile nicht mehr da. Also muss es vorerst ohne Wagner gehen.

Bademantel mit Bühnenpatina

Ein Blick aufs Chronometer: gleich ein Uhr. Thiele friemelt noch schnell den gestreiften Bademantel aus einer der Bananenkisten, rümpft angewidert die Nase und hängt die Klamotte zum Auslüften an die Garderobe: „Das ist noch derselbe wie bei der Premiere und seit…“, er überlegt und nickt dann etwas ungläubig, „na ja, seit mindestens 1986 nicht mehr gewaschen. Hat inzwischen Bühnenpatina angesetzt.“ Thiele grinst. Wer Authentizität will, muss Opfer bringen.

Einem anderen Requisit verlangt Thiele solcherlei Qualen dagegen gar nicht erst ab, wohlwissend dass, selbst wenn er ohne eigenes Zutun zu literarischem Ruhm gelangt ist, eine Kostbarkeit wie der Kontrabass einer nachsichtigen Behandlung bedarf. Während fast der komplette Fundus nicht geschont wird und regelmäßig zwischen Hafencontainer, Mietwagen und schäbigen Abstellkammern pendelt, weilt Thieles mondänes Instrument – wohlbehütet und verhätschelt von der gesamten Familie – im heimischen Wohnzimmer und lässt sich erst kurz vor seinem Auftritt zur Bühne chauffieren. Thiele seufzt theatralisch und lächelt etwas gequält – am Ende vermischen sich Fiktion und Realität dann doch.

Der Titelgeber im bühnenbildnerischen Hintergrund. Foto: NOZ/Thomas Osterfeld

(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 18.08.2018)