Frühlingserwachen in der Talaue Haus Marck

Einen blütenweißen Teppich bildet das Busch-Windröschen. Der Wald, erklärt Biologe Hartmut Storch, wird jedes Frühjahr von unten nach oben grün und verfärbt sich dann im Herbst von oben nach unten ins Bräunliche. Foto: Ulrike Havermeyer

Der Zaunkönig schmettert seinen Gesang durch die Morgenluft. Zwei Biker geben Gas und knattern an einem Pulk emsig in die Pedalen tretender Rennradler vorbei. Jeder begrüßt den Frühling auf seine Weise. Als Naturfreundin schließe mich einer Exkursion zu den Frühblühern an.

Ein frostiger Februar. Ein mäßiger März. Und auch der April wirkte anfänglich eher apathisch. Ob die Biologische Station des Kreises Steinfurt ihre seit Monaten angekündigte Exkursion zu den Frühblühern in der Talaue Haus Marck in Tecklenburg mangels botanischer Beteiligung am Ende würde absagen müssen? Mit der Skepsis eines winterschläfrigen Murmeltieres hatte ich in den vorangegangenen Tagen vorsichtshalber schon mal nach alternativen Innenraumveranstaltungen Ausschau gehalten. Aber dann ließ sich endlich die Sonne doch noch blicken, die Temperaturen stiegen rasant an – und plötzlich war er da, der Frühling.

„Die Natur ist noch weit zurück“

Also: Winterjacke einlagern, T-Shirt aus dem Schrank geholt, ins Auto gesprungen und nichts wie los, vorbei an den Spaziergängern, den Joggern, den Rennradlern, nur noch die Rückleuchten der vorwegdüsenden Motorradfahrer im Blick. Am Naturschutzzentrum Sägemühle wartet bereits Biologe Hartmut Storch, Mitarbeiter der Biologischen Station des Kreises Steinfurt. „Ja, die Natur ist noch weit zurück“, dämpft er allzu hohe Erwartungen – die aber offenbar keiner der rund zwei Dutzend Teilnehmer hegt. „Ich bin so froh, dass es nun endlich grün wird“, seufzt eine ältere Dame und blickt versonnen um sich. Wir anderen nicken sehnsüchtig. Sie spricht uns allen aus dem Herzen.

Sich mit allen Sinnen auf den Wald einlassen

Dass aber Grün nicht gleich Grün ist, dass jede Pflanze ihre Eigenheiten besitzt und sich um die meisten von ihnen mal geheimnisvolle, mal lehrreiche Geschichten ranken, das alles werden wir gleich während unseres Rundgangs noch ausgiebig von Hartmut Storch erklärt bekommen. „Lassen sie sich mit allen Sinnen auf die Wanderung ein“, lenkt er unsere Aufmerksamkeit aber zunächst auf die Geräusche der Talaue und ihrer Bewohner, auf das Aroma der Frühlingsluft und die Stimmung des erwachenden Waldes.  Um die 17 oder 18 verschiedene Arten von Frühblühern gibt es in dem Naturschutzgebiet „Talaue Haus Marck“ rund um das alte Wasserschloss zu entdecken, verrät der Biologe, „ich hoffe, wir können trotz der langen Kaltphase, die hinter uns liegt und die die Natur zurückgeworfen hat, wenigstens ein paar von ihnen finden.“

Das Lichtfenster der kahlen Äste nutzen

Als Frühblüher würden all jene krautigen Pflanzen bezeichnet, erklärt uns Storch, die bis in den April hinein aufgeblüht seien. Sie nutzten die Lichtfenster, die durch die noch kahlen Kronen der Laubbäume offen stünden, um möglichst zeitig ihren Entwicklungszyklus zu beginnen. „Die sogenannten Geophythen besitzen Zwiebeln, Knollen oder Rhizome als unterirdische Speicherorgane“, informiert uns der Biologe, „sodass sie bei den ersten wärmeren Sonnenstrahlen gleich loslegen, oft innerhalb einer Woche austreiben und großflächige Teppiche bilden können.“

Geologisch besonders geprägtes Gebiet

Begleitet vom Gesang der Rotkehlchen, Buchfinken und Zilpzalpe wandern wir schnurstracks auf die erste botanische Auslegeware zu, die sich in blütenreinem Weiß zwischen den Stämmen der Rotbuchen zeigt: das Busch-Windröschen. „Das kennt in der Regel jeder“, kommentiert Storch und weist bei dieser Gelegenheit auf die Besonderheiten des Naturschutzgebietes Talaue Haus Marck hin: Weil es zwischen zwei geologisch unterschiedlich geprägten Höhenzügen des Teutoburger Waldes liegt – einem sauren Sandstein- und einem vorgelagerten basischen Kalksteinausläufer – hat sich hier eine beachtliche Vielfalt sowohl von Pflanzen- als auch von Tierarten angesiedelt.

Das Scharbockskraut mag es feuchter

Der über weite Abschnitte naturnah verlaufende Wechter Mühlenbach, der in früheren Zeiten bis zu sieben Mühlen – von der Getreide- über die Papier- bis hin zur Schnupftabakmühle – gespeist haben soll, bietet außerdem Platz für Frühblüher, die es gerne ein bisschen feuchter mögen: für das gelbes Scharbockskraut zum Beispiel und für den bei Salatfreunden begehrten Bärlauch, der hier auf den unter Schutz stehenden Flächen allerdings nicht gepflückt werden darf.

16 verschiedene Arten entdeckt

Während viele Teilnehmer die Ruhe der Umgebung und die milden Temperaturen genießen, entdeckt Storch, der so leidenschaftliche wie versierte Botaniker, immer neue Attraktionen zwischen den vertrockneten Laubblättern des Vorjahres: das unscheinbare, gelblichgrün blühende Milzkraut, das sogar noch unscheinbarere Moschuskraut und das ebenfalls eher schlichte Waldbingelkraut – „oder einfach Pinkelkraut genannt, weil es stark harntreibend ist“, belehrt uns Storch mit einem Augenzwinkern. Es folgen Lerchensporn und Lungenkraut, Aronstab, behaartes Veilchen und Huflattich, Pestwurz, Schlüsselblume und Waldmeister. Als wir den Rundgang beenden, habe ich 16 verschiedene Arten von Frühblühern notiert. „Ja, ich bin selber ganz überrascht, wie stark sich die Pflanzen hier präsentieren“, staunt Storch.

Zu jeder Jahreszeit einen Besuch wert

Von den meisten Frühblühern, gibt er zu bedenken, sei aber bereits ab Juni, Juli nichts mehr zu sehen. „Dann sind nicht nur die Blüten, sondern auch die grünen Laubblätter verwelkt, die Nährstoffe in die Speicherorgane eingelagert, und die Pflanzen haben ihren Zyklus für dieses Jahr beendet.“ Aber die Talaue, schwärmt der Biologe, die sei zu jeder Jahreszeit einen Besuch wert: „Kommen sie wieder, setzen sie sich hin – und genießen sie das Gurgeln des Baches, die Geräusche der Natur – oder einfach nur die Stille.“

(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 11.04.2018)