Begnadeter Regisseur für das Kino im Kopf

Ob Goethe oder Schiller, Heine oder Ringelnatz – Ben Becker schöpfte genüsslich aus dem Gedichte-Reichtum des Ewigen Brunnens, kongenial begleitet von Yojo Röhm am Klavier. Foto: Christian Wüst

Ein Tisch. Ein Klavier. Eine Kerze. Zwei Männer. Ein Gedichtband. Dazu Wasser und Wein. Mehr braucht es nicht, um der zwischen den Buchdeckeln schlummernden Welt ein beeindruckendes Maß an Leben einzuhauchen. Zumindest nicht, wenn die Männer Ben Becker und Yojo Röhm heißen.

Umgeben vom schlichten Schwarz der Bühnenwände, lässt Schauspieler, Sänger und Rezitator Ben Becker in der Aula des Artland Gymnasiums die Fantasie von ihrer Leine – und mit unwiderstehlicher Kraft erobern daraufhin so sagenumwobene Gestalten wie der Erlkönig, das schnöselige Fräulein Kunigunde oder der heldenhafte John Maynard die Kulissen in den Köpfen des Publikums.

Alles, was ein Blockbuster braucht

„Schmeißen Sie den Fernseher aus dem Fenster und kaufen Sie sich den Ewigen Brunnen, das bringt mehr“, bricht Becker eine Lanze für die Gedichte und Balladen, die das „Hausbuch deutscher Dichtung“ auf mehr als Tausend Seiten versammelt. Denn von Liebe bis Intrige, von Mord bis Märtyrertum besitzt jeder Text, den Becker bei den Quakenbrücker Musiktagen vorträgt, alles, was ein veritabler Blockbuster braucht. Doch statt made in Hollywood, ist an diesem Abend jeder imaginäre Film ein Unikat, das der Zuhörer in seinem persönlichen Kopfkino selbst gestaltet. Dass dabei starke Bilder entstehen, garantiert neben der so markanten wie facettenreichen Stimme von Ben Becker auch die musikalische Begleitung von Yojo Röhm am Klavier. Während ein tölpelhafter Zauberlehrling, der in Hogwarts wohl nicht über ein „Mies“ hinausgekommen wäre, gegen die Folgen seiner Selbstüberschätzung ankämpft, lässt Röhm Klangwelle um Klangwelle aus seinem Instrument schwappen. „Ich kann mir gut vorstellen, welchen Spaß Goethe daran hatte, sich dieses Gedicht auszudenken“, schmunzelt Becker, rückt den von früheren Auftritten ramponierten Zauberhut zurecht und versetzt sich in den Alltag des Dichterfürsten: „Noch schnell ein Gläschen Wein vorm ins Bett gehen – und eben mal den Zauberlehrling runtergeschrieben.“

„Eine wunderbare Familientradition“

Der Freude, die Becker aufseiten der Dichter beim Verfassen ihrer Werke vermutet, steht seine eigene Begeisterung beim Deklamieren derselben aber in nichts nach: Becker säuselt und schluchzt, wettert, droht und verzweifelt. Mal angefeuert, mal beschwichtigt von Yojo Röhms kongenialem Klavierspiel. Außer in die Welt der Könige und der Ritter, der Kindsmörder, Seefahrer und Abenteurer, nimmt Becker sein Publikum aber auch mit in die eigene Vergangenheit und schwadroniert über längst vergangene Kindertage, in denen sein Stiefvater Otto Sander gemeinsam mit befreundeten Schauspielerkollegen Gedichte am heimischen Weihnachtsbaum vortrug. „Eine wunderbare Familientradition“, sinniert Becker etwas wehmütig. Doch spätestens als der ebenfalls begnadete Vorleser Bruno Ganz, nicht mehr ganz nüchtern, in den Jugendstilspiegel seiner Mutter gewankt sei und diesen dabei komplett zerbrochen habe, sei Schluss mit den weihnachtlichen Rezitationsfesten gewesen. Becker lacht laut auf – nun geht er eben selbst mit dem Ewigen Brunnen auf Lesereise. Nach zwei rasanten Stunden hat sich seine wilde Fantasie ausgetobt. Kerze ausgepustet. Gläser fast leer. Buch zu!

(Erschienen in: Bersenbrücker Kreisblatt, 29.01.2018)