Auf der Suche nach dem perfekten Baum

Die Bügelsäge geschultert, begibt sich mein Mann in der Tannenschonung der Familie Ahlmer auf die Suche nach dem perfekten Weihnachtsbaum. Foto: Ulrike Havermeyer

Auf der abgesteckten Parzelle auf Hollenbergs Hügel, deren Umzäunung Frank Ahlmer und sein Vater Norbert an diesem Dezembertag geöffnet haben, grünen die Nordmanntannen. Jeder der will, darf sich hier einen Weihnachtsbaum schlagen – und unterstützt damit eine gute Sache.

Denn von jeder Tanne, die die Familie Ahlmer bei dieser einmaligen Sonderaktion verkauft, gehen zwei Euro an den Förderverein des Westerkappelner Familienzentrums St. Barbara. „Das Familienzentrum möchte eine Bewegungsschaukel für die Kinder anschaffen – und wir wollen etwas Schwung in das Projekt bringen“, erklärt Inga Ahlmer, Mutter von zwei Kindern und Vorstandsmitglied des Fördervereins.

„Selber sägen? Gute Idee!“

„Selber sägen? Gute Idee!“, leistet mein Mann – leidenschaftlicher Hobby-Handwerker und Stammkunde in sämtlichen Baumärkten der Region – keinerlei Widerstand, als ich ihm vorschlage, das Angebot des Fördervereins zu nutzen. Während er sich, entschlossen die behandschuhten Hände reibend, in seine Werkstatt begibt, um das technisches Equipment zusammen zu kramen, vermesse ich sicherheitshalber noch schnell die Höhe der Wohnzimmerdecke. Die Erfahrung hat mich gelehrt, auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Habe ich schon erwähnt, dass mein Mann in Sachen Weihnachtsbaumauswahl zu einem – ihm ansonsten eher fremdem – Perfektionismus neigt?

Das Mysterium der Weihnacht

Die Jahre unserer Ehe lassen sich an den Versuchen abzählen, den perfekten Weihnachtsbaum zu finden: Ob samt Wurzelwerk in einen Blumenkübel gepflanzt, fix und fertig eingenetzt im Fachhandel erstanden, oder mit halb erfrorenen Fingern aus einem tiefen, dunklen Wald geschleppt – jeder unserer nadeligen Gäste könnte seine eigene, oft wundersame Geschichte erzählen. Vor allem die Episoden, die mit Axt und Motorsäge geschrieben wurden, entbehren nicht einer gewissen Dramatik… Eines der Mysterien des Weihnachtsfestes liegt für mich denn auch darin, dass sämtliche dieser Expeditionen, obschon sie allesamt ihr erklärtes Ziel, den makellosen Baum zu entdecken, verfehlt haben – doch bisher jedes Mal von einem Happy-End  gekrönt wurden: Denn wenn die Kerzen am Heiligen Abend erst einmal angezündet sind, erstrahlt auch die hutzeligste Tanne in versöhnlichem Glanz.

Fehlgeleitete Selbstwahrnehmung

„In diesem Jahr gehen wir es aber mal ganz ohne Stress an, einverstanden?“, werfe ich diplomatisch säuselnd in den Raum. Mein Mann, der gerade ein Knäul Spanngurte, die alte, Schweden erprobte Bügelsäge sowie einige unterschiedlich grob gezahnte Ersatzblätter im Kofferraum verstaut, blickt mich irritiert an: „Aber so machen wir das doch immer!“, sind die Symptome fehlgeleiteter, feiertäglicher Selbstwahrnehmung nicht zu leugnen: Falten der Empörung zieren seine Stirn. Der offenbar unbewusst malmende Kiefermuskel zuckt verräterisch. „Na, wenn das so ist, kann ja nichts passieren“, seufze ich und wappne mich für das nächste Kapitel unserer forstlich-kritischen Betrachtungen, das in diesem Jahr also auf Hollenbergs Hügel spielen wird.

Langwieriger Entscheidungsprozess

Inga Ahlmer lächelt einladend und deutet auf die großzügige Anpflanzung gleich neben der Einfahrt zum Hof der Familie: So um die 1200 Nordmanntannen hätten ihr Mann und ihr Schwiegervater hier vor acht Jahren gesetzt, erklärt sie. Die Säge geschultert, den Zollstock griffbereit, pirschen meine wählerische Ehehälfte und ich in die Schonung hinein. Hoch gewachsene neben eher zierlichen Exemplaren, welche von ausladendem Wuchs, welche von schlankem – die Vielfalt ist beeindruckend, lässt allerdings einen langwierigen Entscheidungsprozess befürchten…

Traute Eintracht Arm in Ast

Gerade versuche ich, im feuchten Laub des Vorjahres hockend, den Durchmesser eines stattlichen Nadelholzstammes zu ermitteln, als plötzlich irgendwo in der Ferne ein triumphierender Aufschrei zu hören ist: „Ich habe ihn!“ Wie jetzt?! , stolpere ich durchs Dickicht auf meinen Mann zu, der mit stolzgeschwellter Brust ein strubbeliges Tannenbäumchen im Arm hält und traute Eintracht demonstriert. Beim Anblick der beiden weihnachtlich vereinten Gestalten wird mir ganz warm ums Herz. „Ist die nicht etwas zu licht untenrum?“, werfe ich vorsichtig ein, „und sollten wir nicht lieber mal den Zollstock dranhalten, ob die Länge auch stimmt?“ – „Ach was“, entgegnet mein Mann, von enthusiastischer Verwegenheit geritten, „man muss auch mal seiner Intuition vertrauen!“ Sprichts, setzt die Säge an – und raspelt vergnügt drauflos.

Individueller Charme

Was soll ich sagen? Meine anfängliche Skepsis ist anhaltender Begeisterung gewichen. Unser kleiner Weihnachtsbaum hat sich beim Aufstellen zwar als etwas lütt entpuppt, die Spitze knickt keck in Richtung Nord/Nordost ab, und nicht an jeder Seite sind die Äste gleich lang – aber er verleiht unserer Stube fraglos einen ganz unvergleichlichen, individuellen Charme. Und unserer Weihnachtsbaum-Saga eine neue, denkwürdige Wendung.

(Erschienen in: Westfälische Nachrichten, 23.12.2017; Neue Osnabrücker Zeitung, 23.12.2017)