Jung lehrt Alt – ein pädagogischer Perspektivenwechsel

Hier profitiert jeder von jedem: Seniorschülerin Maria lernt von Simon (links) und Steffen, wie sie am PC eine Einladungskarte gestaltet – und die beiden Achtklässler trainieren sich in der Kunst des Erklärens. Fotos (2): Ulrike Havermeyer

Technikaffine Schüler, die älteren Menschen den Weg in die digitale Welt weisen. Und Senioren, die bei den Jugendlichen die Begeisterung fürs Erklären und für ein generationenübergreifendes Verständnis wecken. Dass dieses Konzept aufgeht, zeigt die Gesamtschule Lotte-Westerkappeln.

Sprachnachrichten per Whatsapp verschicken? Bilder auf dem Laptop bearbeiten? Ein eigenes Facebook-Profil erstellen? Was für Simon und Steffen reine Routine ist, bringt inzwischen auch Maria nicht mehr aus der Fassung. Während die 60-jährige Osnabrückerin ihre Kindheit noch im Schatten von Schwarz-Weiß-Fernsehapparat, analogem Schnurtelefon und Briefpapier verbracht hat, prägen Smartphone, World Wide Web und Social Media – seit sie denken können – den Alltag von Simon, Steffen und den anderen Achtklässlern, die das Wahlpflichtfach „Jung lehrt Alt“ an der Gesamtschule Lotte-Westerkappeln belegt haben.

Wie benutze ich ein Handy?

Seit Anfang des Schuljahres drücken um die zehn wissbegierigen Senioren mehr oder weniger regelmäßig die Schulbänke an der Osnabrücker Straße in Westerkappeln – freiwillig und kostenlos. „Die Seniorschüler werden von 26 Achtklässlern unterrichtet“, erläutert Lehrerin Judith Liedtke, die zusammen mit ihrer Kollegin Meike Deutz die Gruppe betreut. Jeweils zwei bis drei Jugendliche und ein Seniorschüler bilden zusammen ein Team, das an seinem gemeinsamen Arbeitsplatz von allerlei technischem Equipment flankiert wird: Mitgebrachte Senioren-Handys, deren Bedienung ihren Besitzern noch nicht so richtig klar ist, werden ebenso akribisch unter die Lupe genommen wie Laptops und Tablets, auf denen die Seniorschüler eine neue Software installieren oder schlichtweg eine Datei oder einen Ordner anlegen oder löschen wollen. Über all dem schwebt die Frage: Wie funktioniert‘s?

Mit selbstgestaltetem Unterrichtsmaterial vermitteln die Nachwuchslehrer ihren Schülern die Grundlagen der EDV (elektronische Datenverarbeitung).

Wenn sich der Blickwinkel verändert

„Die Atmosphäre in diesem Wahlpflichtfach ist schon sehr besonders“, freut sich Judith Liedtke über einen nicht unbeabsichtigten Nebeneffekt: Wenn ältere Semester wieder zu Schülern und vom Schulalltag geplagte Heranwachsende plötzlich zu Lehrern werden, ändert sich mit diesem Rollentausch eben auch der Blickwinkel. Nicht nur Verständnis für die Schwächen des Gegenübers keimt auf, sondern auch der Respekt vor dessen Stärken – schließlich verfügen sowohl Jung als auch Alt reichlich über beides. Eine weitere wichtige Zutat beim gemeinsamen Lernen: das befreiende Über-sich-selbst-lachen-Können, wenn es – je nachdem, mit dem Erklären oder dem Begreifen – mal nicht sofort klappt.

Der Computer, das unbekannte Wesen?

„Man entwickelt ein Gefühl dafür, wie schnell oder wie langsam man die Sachen erklären muss“, sagt der 13-jährige Simon. Und Steffen, ebenfalls 13 Jahre, ist aufgefallen: „Fachvokabular sollte man nicht voraussetzen, sondern man muss einfache Wörter finden. Auch grundlegende Handlungsschritte am PC, über die wir gar nicht mehr nachdenken, kennen die Senioren oft nicht.“ Und welche Erfahrungen hat Seniorschülerin Maria bisher gesammelt? „Ganz toll machen die das“, ist sie völlig angetan von ihren beiden jugendlichen Mentoren. „Vorher hatte ich immer Angst, dass ich was kaputtmache, wenn ich die falsche Taste drücke und war viel zu vorsichtig – der Computer, das unbekannte Wesen“, lacht sie.

Die eigenen Ängste überwinden

„Genau das ist oft das Problem“, stimmt ihr Simon augenblicklich zu, „Sie  müssen vor allem lernen, Ihre Angst vorm Digitalen zu überwinden.“ Und weil das am besten funktioniert, indem der Schüler selbst aktiv wird, haben Steffen und Simon verschiedene Übungen für Maria vorbereitet. So soll sie beispielsweise eine Einladungskarte am PC gestalten. Nein, das sei keine verpflichtende Hausaufgabe, erklärt mir Steffen – und fügt schmunzelnd hinzu: „Hausaufgaben geben wir gar nicht auf. Unsere Seniorschülerin ist nämlich dermaßen motiviert, dass sie bis zur nächsten Woche sowieso alles nochmal nachgearbeitet und wiederholt hat.“

Schnupperstunde unverbindlich nutzen

„Für alle Menschen über 50 Jahre ist unser Angebot ,Jung lehrt Alt‘ quasi eine offene Stunde, eine Altersgrenze nach oben besteht nicht – jeder darf teilnehmen“, betont Meike Deutz, „aber keiner ist verpflichtet, das ganze Schuljahr über zu bleiben.“ Manche der Senioren, die bereits mitmachten, hätten sehr gezielte Fragen zum Internet, zum Umgang mit ihrem Smartphone oder der Digitalkamera. „Einiges lässt sich in einer oder zwei Stunden beantworten, andere Seniorschüler nutzen das Angebot jede Woche.“
Wer an einer Schnupperstunde bei den Jungpädagogen teilnehmen und seine Hemmschwellen zur digitalen Welt abbauen möchte, kann ohne Anmeldung unverbindlich vorbeischauen: Die Gruppe trifft sich – außer in den Ferien – jeden Donnerstag von 11.45 bis 12.30 Uhr im Computerraum der Gesamtschule in Westerkappeln, Osnabrücker Straße 25. Informationen erteilt das Sekretariat unter Telefon 05404/963720.

(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 22.11.2017)