Im Reich von Rötelritterling und Totentrompete

Speisepilz des Jahres 2017 ist der Gemeine Riesenschirmpilz oder Parasol. Der Pilz ist einer der besten Speisepilze. Sein Hut erreicht eine Größe von bis zu 35 Zentimeter im Durchmesser und er kann bis zu 30 Zentimeter hoch werden. Foto: Martin Wernke

Die Kulisse ist perfekt: ein abgelegener Mischwald am Rande der Bauerschaft Helle, Gemeinde Badbergen. Das milde Oktoberlicht bricht sich an nebelfeuchten Fichtenstämmen. Nur ab und zu durchschneidet der Ruf eines Eichelhähers die morgendliche Stille.

In Biotopen wie diesen, wo bunt verfärbtes Herbstlaub lautlos auf lindgrüne Moospolster herabschwebt, liegt das Reich jener Wesen, die weder Tier noch Pflanze sind: Hier, wo die Bäume noch morsch werden dürfen und der Boden nicht überdüngt ist, sind so bemerkenswerte, so schmackhafte, aber auch so gefährliche Gestalten wie der Maskierte Rötelritterling, die Totentrompete oder der Purpurfilzige Holztrichterling zuhause. Einer, der sich in der phantastischen Welt der Pilze bestens auskennt, ist Martin Wernke. Vor wenigen Monaten hat der Quakenbrücker mit einer Handvoll Gleichgesinnter aus dem Osnabrücker Land seine Prüfung zum Pilzberater absolviert. Nun können sich die sechs Naturfreunde vor Anfragen nach geführten Wanderungen kaum retten.

Pilzprofi Martin Wernke. Foto: Ulrike Havermeyer

Martin Wernke bleibt erstmal stehen. Steht da auf dem zugewucherten Trampelpfad inmitten himmelhoher Kiefern und Birken und Rotbuchen und betrachtet die Landschaft. In aller Ruhe. Mit großer Aufmerksamkeit. Und einem sehr zufriedenen Lächeln auf den Lippen. Die Welt der Pilze. Martin Wernke seufzt. „Wenn mir einer erzählt, er wisse alles über Pilze“, sagt der 42-jährige Familienvater, „dann würde ich bei dem auf jeden Fall nicht essen.“ Das Thema Pilze, erklärt Wernke, das sei im Prinzip nämlich grenzenlos. Die Leidenschaft dafür also unstillbar. Lückenloses Wissen für den Enthusiasten ein erstrebenswertes, aber unerreichbares Ziel. Er atmet tief durch und deutet mit unbestimmter Geste auf die verwunschene Szenerie. Beinahe auf jeder Wanderung, berichtet der Quakenbrücker mit unverhohlener Begeisterung, stolpere selbst der erfahrenste Mykologe über etwas Ungewöhnliches. Etwas Irritierendes. Etwas, das es nachzuschlagen, unters heimische Mikroskop zu legen oder mit anderen Pilzkundlern in einem der vielen Internetforen oder ganz altmodisch analog in gemütlicher Runde zu diskutieren gelte.

Steinpilz. Foto: Martin Wernke

„Das, was für die meisten von uns der Pilz ist“, erklärt Martin Wernke, „das ist ja genau genommen bloß so etwas wie der Apfel – also der Fruchtkörper.“ Der gelernte Verpackungsmitteltechnologe lenkt seine Schritte behutsam auf die nächste Lichtung zu und fährt fort: Der eigentliche Organismus, der Apfelbaum sozusagen, der lebe – als weit verzweigtes Pilzgeflecht, als sogenanntes Mycel – im Boden. „Im Grunde“, sagt Martin Wernke, „sind die Pilze überall: Ihr Mycel durchzieht die Erde, ihre Fruchtkörper sprießen aus dem Boden oder aus verrottendem organischem Material – und ihre Sporen werden über die Luft verbreitet.“ Um uns herum: mykologische Unendlichkeit. Mehr kann man von einem Hobby nicht verlangen.

Fachwissen dringend gesucht…

Wernke selbst hat es vor ungefähr sechs oder sieben Jahren erwischt. Weil er damals keinerlei Grundkenntnisse über die wunderbare Welt der Pilze besaß, als Naturfreund jedoch ein breites Interesse an allem, was dort draußen kreucht, fleucht und gedeiht, hegte, suchte er nach fachkundigen Lehrern in Sachen Kuhmaul, Hexenröhrling und Co. Ziemlich schnell kam er zu der ernüchternden Erkenntnis: „Hier kann mir keiner helfen.“ Was Pilzberater angeht, war das Osnabrücker Land lange Zeit tatsächlich ein weißer Fleck auf der Landkarte der Mykologen.

Violetter Rötelritterling. Foto: Martin Wernke

Das Schicksal ereilte Martin Wernke – wie es das so gern und oftmals zu tun pflegt – per Zufall: Der in Fachkreisen hoch angesehene „Pilz-Papst“ Dieter Honstraß bereiste mit seiner „mobilen Pilzschule“ gerade die Gegend. Wernke belegte zunächst einen Wochenendkurs. „Da trifft man dann auf Menschen, die schon vor dem Frühstück von nichts anderem als von Pilzen reden“, erinnert sich der ambitionierte Schüler. „Und bis man abends auseinander geht, hat sich das Thema nicht wirklich geändert.“ Kontakte wurden geknüpft. Freundschaften besiegelt. Und weitere Kurse gebucht. „Recht schnell hatte sich ein fester Kern gebildet“, erzählt Wernke. Jene Handvoll „Pilz-Jünger“ aus Melle und Osnabrück, aus Emden, Lengerich und Quakenbrück, die sich regelmäßig zu den Honstraß’schen Fortbildungen trafen, Wissen über die Welt der Pilze anhäuften und nun als geprüfte Pilzberater ihre Tätigkeit aufgenommen haben.

Beim Giftinformationszentrum registriert

Schopftintling. Foto: Martin Wernke

„Mit diesem breiten öffentlichen Interesse haben wir allerdings nicht gerechnet“, gesteht Wernke rund heraus und wirkt noch immer ein wenig verblüfft. Weit über hundert Anrufe sind bei ihm und seinen Kollegen in den vergangenen Wochen eingegangen. Für ihn sei die Prüfung eher ein persönlicher Leistungsnachweis, eine Herausforderung gewesen. Doch schnell hatte er begriffen, dass er nun zu den Wenigen in der Region zählt, die sich in modernen Zeiten wie diesen wieder auszukennen anschickten – nicht nur, was die Ökologie und die Systematik, das Sammeln und Bestimmen, die Lagerung und die Zubereitung von Pilzen angeht, sondern auch was ihre Giftigkeit betrifft. „Als mir das klar wurde, habe ich mich erstmal als Sachverständiger beim Giftinformationszentrum in Göttingen registrieren lassen.“

Pilzwanderungen für Naturfreunde

Damit war die Richtung vorgegeben: „Der weitaus größte Anteil an Pilzvergiftungen“, berichtet Wernke, „entsteht durch unsachgemäße Behandlung von an sich verzehrbaren Speisepilzen.“ Sprich: Zu alt oder bereits von Bakterien befallen geerntet. Zu lange oder schlichtweg falsch gelagert. Zu kurz erhitzt oder gar roh verspeist. Wenn sich ein Gebiet, auf dem sich aktuell so viele Laien tummeln, aber als derart heikel entpuppt, dass Amateure dort – oft ohne es zu ahnen – zwischen Naturfaszination und Lebensgefahr hin und her taumeln, ist solide Wissensvermittlung dringend vonnöten. Und wer sollte die emsigen Pilzsammler schließlich besser aufklären und schulen als die frisch geprüften Pilzberater? Wernke nickt energisch: „Im kommenden Jahr werden wir sehr gezielt öffentliche Pilzwanderungen anbieten.“ Möglicherweise ließen sich auch ein paar weiterführende Seminare organisieren. Bis dahin findet jeder Interessierte die „Pilzfreunde Osnabrück“ über Martin Wernkes Homepage www.pilzmade.de.

Speisemorchel. Foto: Martin Wernke

Der laue Herbstwind lässt einen weiteren Schwarm wie durch den Wasserfarbkasten gezogener, bunt gekleckster Blätter zu Boden kreiseln. Wernke betrachtet ohne jede Eile und in unbeirrbarer Konzentration die kleine, sich vor ihm auftuende Badberger Wildnis. Mit kundigem Blick macht er eine Gruppe Fichten aus, Blaubeersträucher im Unterbewuchs, daneben polsterweise frisches Moos und lichte Stellen. „Mal gucken, ob es hier nicht ein paar Steinpilze gibt“, sagt er mit einer satten Prise Vorfreude in der Stimme. Das typische Utensil des passionierten Sammlers – ein filigran geflochtenes Weidenkörbchen, hat Martin Wernke heute allerdings nicht dabei. Mittlerweile genießt der Pilzberater die mykologische Vielfalt gern auf andere Weise: „Fotos futtert man nicht auf – und die Pilze darauf vergammeln niemals“, schmunzelt er, stellt die große Schultertasche vorsichtig ins raschelnde Laub und nimmt seine Kamera heraus.

Stockschwämmchen. Foto: Martin Wernke

(Erschienen in: Bersenbrücker Kreisblatt, 02.11.2013)