Als Notfalldarstellerin beim DRK-Bundeswettbewerb

Auch wenn hier Gottseidank nur Kunstblut im Spiel ist, gibt Rettungssanitäterin Birgit Unger aus Sachsen-Anhalt alles, um mich als Notfalldarstellerin zu beruhigen. Foto: Anna-Martina Keggenhoff

Traumatisierte, Bewusstlose, Schwerverletzte: Wo man auch hinblickt, waltet an diesem Tag in Ibbenbüren der inszenierte Schrecken. Kurzum: Es ist angerichtet für die 17 Rettungsteams aus ganz Deutschland, die sich hier im Bundeswettbewerb des Deutschen Roten Kreuzes messen.

Hinter den Kulissen ist jede Hand gefragt. Sogar meine. „Sie können ruhig richtig schön jümmelig sein“, ermuntert mich Anna-Martina Keggenhoff und kleckst mir eine Spatelspitze – von der Konsistenz her an dunkles Johannisbeergelee erinnernden – Wundfüller auf die Nase. „Schließlich haben sie ja Schmerzen und stehen unter Schock.“ Jümmelig? Die Rettungssanitäterin aus Arnsberg grinst mich an: „Das sagt man so bei uns im Sauerland: jümmelig. Das bedeutet…“ Sie überlegt angestrengt, zuckt dann ratlos mit den Schultern und zeigt schmunzelnd zu ihrer Kollegin hinüber.

Nachfragen, beruhigen, trösten!

Die kauert mitten auf dem Ibbenbürener Rathausplatz, das Gesicht kunstblutüberströmt, und wimmert mitleiderregend vor sich hin: „Ich krieg keine Luft! Hilfe! Ich kann nicht mehr atmen!“ Doch schon im nächsten Augenblick stürmt ein junger Mann in DRK-Montur auf die vermeintlich Verletzte zu, hockt sich neben sie, erkundigt sich, was denn passiert sei, wo genau sie Schmerzen habe, und legt ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. „Ich … krie-ge … kei-ne … Luft!!!“, krächzt Anna Maria Glaninger und blickt den Sanitäter mit aufsteigender Panik an: „Und … über-all … ist … Blut!!!“

Ein Schlag ins Gesicht hat Anna Maria Glaninger außer Gefecht gesetzt. Die Notfalldarstellerin hält die Sanitäter professionell auf Trab. Foto: Ulrike Havermeyer (2)

Das Können der Sanitäter würdigen

Zum 57. Mal, erklärt mir Oberschiedsrichterin Birgit Kühn vom Kreisverband Bottrop, trage das DRK nun bereits seinen alljährlichen Bundeswettbewerb aus. „Auf der einen Seite wollen wir damit unsere Rettungssanitäter motivieren und ihr Können würdigen.“ Auf der anderen Seite seien die spektakulär inszenierten Aktionen natürlich auch ein Appell an die Zuschauer, ihre eigenen Kenntnisse als potenzielle Ersthelfer einzuschätzen und gegebenenfalls aufzufrischen. „Außerdem wollen wir vermitteln, wie wichtig es ist sich zu trauen, selber im Notfall aktiv zu werden“, fordert Kühn zum Handeln auf: „Auch wer unsicher ist, wenn er als Ersthelfer in eine Unfallsituation gerät, kann zumindest den Notdienst rufen und dem Verletzten beistehen.“

„Geht … schon … besser“

Anna Maria Glaninger, mittlerweile in eine Decke gehüllt, ein Kühlkissen im Nacken, lässt ihre gemimten Schmerzen effektvoll ausklingen. „Geht … schon … besser“, stammelt sie ihrem Retter zu, „danke, … dass sie … mir … geholfen haben.“ Gleich bin ich dran. Doch anders als die rund 80 vermeintlich Verunfallten, die den gastgebenden Ortsverein aus Ibbenbüren an den verschiedenen Aufgabenstationen – vom Verkehrsunfall bis zur Höhenrettung, vom Großbrand bis zum Drogenexzess – unterstützen, bin ich keine geschulte DRK-Notfalldarstellerin. Und überhaupt eher der introvertierte Typ. „Wichtig ist, dass Sie auf alles, was der Rettungssanitäter gleich mit Ihnen macht, entsprechend richtig reagieren“, weist mich Birgit Kühn in die Kunst des Simulierens ein. Wer also bin ich? Was ist mit mir passiert? Während mir Anna-Martina Keggenhoff noch eine ordentliche Ladung Kunstblut über die Nase spritzt, richte ich mich in Gedanken in meiner neuen Identität ein.

DAS GRAUEN: Effektvoll geschminkt simuliere ich eine ziemlich jümmelige Verletzte…

Etwas dicker auftragen, bitte!

„Oh… oh… mein Gesicht!“ Ich wiege meinen Oberkörper hin und her, drücke mir das vollgeblutete Taschentuch unter die Nase – und bin demonstrativ sehr jümmelig. Einige Meter entfernt hat sich Anna-Martina Keggenhoff unter die Zaungäste gemischt und nickt mir aufmunternd zu: Ruhig noch etwas dicker auftragen, signalisiert ihr Blick. „AHHH!!! Ich … kriiiie-ge…“, röchel, röchel, „ich … KRIIIE-GE … gar … kei … ne … LUFT … mehr!!!“ Da ist Paul Penzl vom DRK-Team aus Dippoldiswalde, Sachsen, auch schon an meiner Seite. Tastet mein Gesicht ab, stellt mit ruhiger Stimme Fragen zum Geschehen, tröstet mich, stützt meinen Oberkörper ab und hilft mir behutsam in die „atemerleichternde Sitzhaltung“. Aus den Augenwinkeln registriere ich, wie Schiedsrichterin Kühn mit sichtlichem Wohlwollen das Vorgehen meines Retters protokolliert.

Mit Defi und Beatmungsbeutel

Der 16-Jährige agiert so souverän, dass ich fast vergesse, wie geschockt ich ja noch immer bin: „Was ist … mit meiner … SCHWESTER?“, verlege ich mich auf die nächste hysterische Einlage. Denn die Dramatik hat meine Mitstreiterin und mich in einen Raubüberfall verwickelt: Während sich meine fiktive Schwester, alias Maryla Leopold vom DRK Badisches Land, beim Stürzen die Schulter gebrochen hat und eine Platzwunde an ihrem Kopf klafft, bin ich mit einem Faustschlag auf die Nase kurzzeitig außer Gefecht gesetzt worden. Ein Passant hat bei der ganzen Aufregung zu allem Übel auch noch einen Herzinfarkt erlitten und liegt bewusstlos neben uns. Die Helfer tauschen ihn gegen einen Dummy aus, der nun mit Defi und Beatmungsbeutel von den Sanitätern reanimiert wird.

Mal ordentlich auf die Schulter klopfen

Zehn Minuten Zeit haben die Rettungskräfte beim DRK-Bundeswettbewerb an jeder der insgesamt zwölf Stationen, um die Verletzten zu versorgen. Danach gibt es ein kurzes Feedback vom Schiedsrichter-Team, bevor sich die Wettkämpfer auf den Weg zur nächsten Herausforderung begeben. Doch als die Mannschaft aus Dippoldiswalde, noch leicht verschwitzt von der soeben bewältigten Rettungsaktion, weiterziehen will, hat Schiedsrichterin Birgit Kühn eine dringende Bitte an die Fünf: „Klopfen Sie ihrem Kollegen Penzl mal ordentlich auf die Schulter“, sagt sie mit einem Augenzwinkern, „der hat an dieser Station gerade die volle Punktzahl für Sie geholt.“

(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 20.09.2017)