Wo Milch und Daten um die Wette sprudeln

Insgesamt 122 Mal gießt Milchkontrollassistent Josef Tebbe an diesem Abend die Proben aus dem Sammelbehälter in sein Litermaß. Fotos (5): Ulrike Havermeyer

Milch kaufen heißt, Entscheidungen treffen: Frisch oder haltbar gemacht? Ökologisch oder konventionell erzeugt? 1,5 oder 3,5 Prozent Fettgehalt? Dass, egal zu welcher Variante wir greifen, deren Qualität einwandfrei ist – dafür sorgt unter anderem Josef Tebbe.

Hoppsala und Salmiak, Maloche, Anarchie und ihre Kolleginnen lungern bereits mit prall gefüllten Eutern vor dem Einlass zum Melkstand herum. Doch die ungeduldigen Damen von der milchproduzierenden Zunft müssen sich noch etwas gedulden, denn noch trifft Josef Tebbe die Vorbereitungen für die Güte- und Leistungskontrolle. Er sichtet Datenlisten, sortiert die Fläschchen ins Probenmagazin und tauscht sich mit Hajo Leyschulte über etwaige Veränderungen im Milchviehbetrieb der Leyschulte-Steer GbR aus. Wie viele Kälber haben seit der vergangenen Überprüfung das Licht der Welt erblickt? Hat der Veterinär einem Tier Medikamente verabreicht? Sind Kühe ge- oder verkauft worden?

Wann geht’s denn endlich los? Die Kühe können es kaum abwarten, in den Melkstand gelassen zu werden. An ihren rechten Vorderbeinen erkennt man die Pedometer.

Leistung und Güte werden überprüft

Einmal im Monat fährt der Milchkontrollassistent des Landeskontrollverbands (LKV) Nordrhein-Westfalen die Seester Hofstelle an. Nein, stimmt nicht – genau genommen fährt er sie zweimal an: einmal am Abend und dann gleich wieder am nächsten Morgen. Denn das, was Hajo Leyschulte, seine Frau Birgit, deren Tochter Katharina und Auszubildender Tim Roloff während dieser beiden Arbeitseinsätze aus den Eutern der 122 Kühe, die derzeit bei ihnen „in Milch“ sind, herauskitzeln, ergibt zusammen ein „Tagesgemelk“, wie der Fachmann sagt. Und diese Tagesgemelke seiner Mitgliedsbetriebe dienen dem LKV als Grundlage für die regelmäßige Qualitätskontrolle.

Dem Kontrolleur über die Schulter geschaut

Um zu erfahren, wie eine solche Überprüfung abläuft, schlüpfe ich in Melkerkittel und Gummigaloschen, passiere die Hygiene-Schleuse, stiefel mit Hajo und Birgit Leyschulte in die Melkgrube ihres Doppel-Zehner-Fischgräten-Melkstands – und schaue dort Josef Tebbe über die Schulter. Der 70-Jährige hat sein Equipment – das Probenmagazin, ein gläsernes Saugrohr, ein Litermaß, Zettel und Stift – auf einem Tischchen in einer Ecke der Grube platziert, das mobile elektronische Eingabegerät baumelt wie ein überdimensionaler Kettenanhänger um seinen Hals.

Im Milchviehbetrieb der Leyschulte-Steer GbR erhält jedes Tier einen eigenen Namen. Hier äugt Meiose in die Kamera.

„Die Daten stellen einen Mehrwert für uns dar“

„Als ich vor 52 Jahren als Milchkontrollassistent angefangen habe“, erinnert sich Tebbe, „haben wir die Proben anschließend noch selbst in den Molkereien vor Ort ausgewertet und deren Fett- und Eiweißgehalt bestimmt.“ Mittlerweile werden sie, stets gut gekühlt, zum Labor des LKV nach Krefeld gebracht – und dort wesentlich genauer analysiert. „Die Daten, die wir erhalten, stellen einen erheblichen Mehrwert für uns dar“, sagt Hajo Leyschulte. Denn anhand der Ergebnisse erfährt der Landwirt nicht nur wie viel Fett, Eiweiß und Laktose die Milch jeder einzelnen Kuh enthält, sondern kann darüber auch Rückschlüsse auf den Gesundheitszustand der Tiere ziehen. Etwa so: In Leonoras Probe ist der Fettgehalt gesunken: Müssen ihre Futterrationen aufgestockt werden? Bei Euklid steigt die Zahl der „somatischen Zellen“ (Abbauprodukte von Erregern): Kündigt sich da eine Euterentzündung an? In Wirsings Milch hat sich die Hormonzusammensetzung verändert: Ist es an der Zeit, den Besamer zu bestellen und für Nachwuchs zu sorgen?

Ohne Managementprogramm läuft gar nichts

Doch zurück in die Melkgrube: Die Leyschultes haben den ersten zwanzig Tieren die Pforten geöffnet, deren Euter sorgfältig gereinigt und die Melkzeuge angeschlossen – das rhythmische Surren der Pulsatoren, die für zyklische Druckwechsel in der Melkanlage sorgen und so auf sanfte Weise die Milch zum Sprudeln bringen, erfüllt den Raum. Jede Melkstation, erklärt mir Hajo Leyschulte, sei mit dem digitalen Managementprogramm des Betriebs verbunden. Nicht nur die Milch, auch die Daten fließen.

Zweimal am Tag – jeweils morgens und abends – muss das Euter einer Milchkuh geleert werden.

Interaktiver Personalausweis für jede Kuh

Und woher weiß die Elektronik, welches Tier da gerade gemolken wird? Hajo Leyschulte deutet auf den rechten Vorderfuß der Vierbeiner, an dem wie ein schmuckes Armband ein etwa handtellergroßes, flaches Gerät befestigt ist: „Jede Kuh trägt bei uns einen Pedometer“, erklärt der Milchbauer. Eine Art interaktiver Personalausweis, der den Sensoren an den Melk- und Futterstationen mitteilt, welches Tier da gerade ihre Dienstleistung einfordert. Der Pedometer zeichnet außerdem auf, wie oft, wie spät und wie viel Watschel, Wurzel, Wakaluba und all die anderen Schwarzbunten fressen, und ob sie sich auch ausreichend bewegen. „Die Aktivität sagt viel aus über die aktuelle Verfassung der Kuh“, berücksichtigt Leyschulte auch diese Informationen bei seinen wirtschaftlichen Überlegungen.

Individuelle Zuordnung dank Pedometer

Dank Pedometer erscheinen also nun auf den Displays der einzelnen Melkstationen die individuellen Stallnummern der Kühe, die Josef Tebbe gewissenhaft in seinen kleinen PC überträgt und jedem Tier ein entsprechend etikettiertes Probenfläschchen zuordnet. Bevor die Milch – wie beim ganz normalen Tagesgeschäft üblich – durch die Kunststoff- und Edelstahlleitungen in den Kühlbehälter im Nebenraum gepumpt wird, tröpfelt heute ein Teil von ihr in die eigens für die Kontrolle an jeder Melkstation angeschlossenen Probenbehälter, die etwa die Größe eines Einweckglases haben. Ist das Euter leer, notiert Tebbe die abgezapfte Gesamtmenge und gießt die Milch aus dem Probenbehälter in sein Litermaß. Mit dem Saugrohr füllt er die Probe in ein Magazinfläschchen um und verdeckelt es sorgfältig.

Mithilfe des Saugrohrs füllt Milchkontrollassistent Josef Tebbe die Proben in die Fläschchen seines Magazinkastens um.

Hautnah den Strukturwandel miterlebt

122 Mal an diesem Abend sitzt jeder seiner Handgriffe. Josef Tebbe blickt zufrieden auf die Kuheuter und unterhält sich mit den Leyschultes über die aktuellen Entwicklungen in der Landwirtschaft. Wer wie er mehr als ein halbes Jahrhundert auf den Höfen in der Region herumgekommen ist, der hat den Strukturwandel schließlich hautnah miterlebt – und verfolgt aufmerksam, wie es weitergeht in den Ställen. Während er routiniert Probe um Probe nimmt, sieht man dem 70-Jährigen die Freude an, die seine Arbeit ihm bereitet. „Solange ich gebraucht werde, mache ich weiter“, sagt Tebbe voller Elan. Morgen früh ist es schon wieder soweit. Dann drängeln Looping und Lillifee, Elfmeter und Kolchose sich neuerlich vor dem Leyschulte’schen Melkstand herum und warten auf Erleichterung. Und Josef Tebbe weiß:  Die nächsten 122 Proben sind fällig.

(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 26.07.2017)