Auf der Pirsch nach Kunst durch Münsters Innenstadt

Vom Stein des Anstoßes zum Wahrzeichen der Stadt: Susanne Bornemann fotografiert die Gruppe vor den Billiardkugeln von Claes Oldenburg, die seit der ersten Skulptur Projekte 1977 am Aasee liegen. Fotos (3): Ulrike Havermeyer

Während die Feuilletonisten der Documenta 2017 in Kassel und der Biennale in Venedig eher mäßige Zeugnisse ausstellen, sind sie für die Skulptur Projekte Münster voll des Lobes. Passt also gut, dass die Mettinger Draiflessen Collection eine Führung dorthin anbietet.

Zwar eine bekennende Kunstliebhaberin, bin ich doch keine Kunstkennerin – was nicht nur bedeutet, dass ich mich mit Kunst nicht besonders gut auskenne, sondern dass ich ein Kunstwerk hin und wieder auch gar nicht erst als ein solches erkenne. Was besonders die Ausstellung „Skulptur Projekte 2017“, die sich der Kunst im öffentlichen Raum verschrieben hat und ihre 35 Projekte in eben diesem präsentiert, zu einem echten Abenteuer für mich werden lässt. Denn gar nicht so selten sind schnöde Alltagskulisse und gestaltetes Kunstobjekt schwer zu unterscheiden.

Wo ist sie denn – die Kunst?

Umso erleichterter stelle ich fest, dass es auch den anderen Teilnehmern aus Westerkappeln, Mettingen und den Niederlanden nicht wirklich anders ergeht, die sich zusammen mit Kunsthistorikern Franziska Finke und Susanne Bornemann, Leiterin Vermittlung und Museumspädagogik von der Mettinger Draiflessen Collection, auf eine Entdeckungstour durch die Münsteraner Innenstadt begeben. Gemeinsam stehen wir im Innenhof des Stadttheaters und harren etwas ratlos der Dinge, die da irgendwie gar nicht kommen wollen. Wo ist sie denn – die Kunst?

Kunst zum Mitmachen: Was passiert, wenn man den Schalter an einer der langen Strippen betätigt?

Den Blick schulen und erweitern

Franziska Finke lächelt aufmunternd, schweigt und lässt uns Zeit, den Außenraum wahrzunehmen. Seine verschiedenen Elemente zu spüren. Unsere Blicke bewusst zu erweitern. Was sehen wir denn eigentlich genau? Und was übersehen unsere vom Alltag routiniert gewordenen Augen geflissentlich? „Die Leitungen da oben…“, wundert sich eine Kunstreisende über das Spinnennetz aus Stromkabeln hoch über unseren Köpfen. Während ein anderer auf die merkwürdigen Strippen hinweist, die da wie nicht ordentlich weggeräumt an der Außenwand des Theaters baumeln: „Scheinen Schalter dran zu sein…“ Franziska Finke nickt zustimmend: „Dann drücken Sie da doch einfach mal drauf.“ Der Passant als Impulsgeber? Aktion – Reaktion? Tatsächlich: Presst man den Knopf am Ende der Leitung, erfüllt plötzlich lautes Glockengeläut den Innenhof. Aber was passiert, wenn ein anderer Besucher einen der anderen Schalter betätigt? Nicht lange überlegen, sondern ausprobieren, animiert das Projekt CAMP zum Mitmachen.

Die Gefahren medialer Manipulation

Die Installation von Shaina Anand und Ashok Sukumaran thematisiere nicht nur spielerisch die Vernetzungen innerhalb einer globalisierten Welt und die Bedeutung von Kommunikation, erläutert Franziska Finke, sondern wolle auch auf die Gefahren medialer Manipulation aufmerksam machen. Denn die junge Frau, die uns vom Fenster des Nachbargebäudes aus zuwinkt und mit ihrer Kamera fotografiert, ist bei sehr, sehr genauem Hinsehen dann doch nichts als eine perfekt inszenierte Projektion.

Surreales Ambiente zwischen Gestern und Heute

Weiter geht es in die legendäre Kultdisco „Elephant Lounge“ mitten in der City. Dort entführen Bárbara Wagner und Benjamin de Burca bei laufendem Barbetrieb die Gäste per Videoinstallation in die schmalzige Welt der Schlagerindustrie. Hingerissen zwischen amüsierter Distanz und wehmütigen Jugenderinnerungen schwelgen einige von uns in der eigenen Vergangenheit. „Klar war ich früher als Student auch schon hier“, freut sich Otto Nienhoff aus Mettingen und genießt das surreale Ambiente aus Gestern und Heute.

Der Innenraum des Modellschlosses dient als „Kommunikations-Treffpunkt“. Hannelore Heimpold (rechts) aus Westerkappeln ist begeistert von den Lichteffekten.

Kunst als Anstoß zum Weiterdenken

Ein imposanter Tieflader auf dem Vorplatz des LWL-Museums deutet, die Transportkiste bereits einen Spalt breit geöffnet, unmissverständlich an, dass er die neben ihm ausgestellte Henry-Moore-Plastik jederzeit weg aus Münster an einen anderen – dann vielleicht nicht mehr öffentlich zugänglichen – Ort bringen kann. Etwa dorthin, wo besser für sie bezahlt wird? So allmählich schärfen sich unsere Blicke für die Kunst: Die Wasserwaage an der Fassade des LWL-Museums, ein überdimensionaler Opferstock auf einer Wiese an der Promenade oder der verkleinerte Nachbau eines rumänischen Schlosses aus Schwarz-Weiß-Fotokopien auf dem Parkplatz des Oberverwaltungsgerichts. „Häufig will Kunst auch bloß als Anstoß dienen zum Weiterdenken, nicht als Antwort“, merkt Franziska Finke an. „Die muss sich dann jeder selbst erarbeiten.“

Was der Alltag so alles in sich birgt…

Mir macht die kundig geführte Pirsch auf die scheuen Kunstwerke der Skulptur Projekte vor allem deshalb so viel Spaß, weil sie uns als Betrachter immer wieder dazu auffordert, genauer hinzusehen auf das, was wir längst zu kennen glauben. Und dass die drei, in eleganten Schwüngen an den Laternenpfählen gegenüber dem Dom befestigten Kunststoffkabel, die wie überdimensionale Tassenhenkel aussehen, sich dann doch nicht als etikettierte Kunst, sondern als simple Baustelle erweisen, zeigt mir am Ende nur, dass sogar der profane Alltag das Potenzial für einen ästhetischen Perspektivenwechsel in sich trägt. Man muss es bloß erkennen…

(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 19.07.2017)