„Zeigt mir eure flotten Finger!“

Tägliches Üben gehört für Heinz Determann an der Tuba und seine Mitstreiter vom Posaunenchor Wersen zum Handwerk. Foto: Ulrike Havermeyer

Der Evangelische Posaunenchor der Kirchengemeinde Wersen feiert in wenigen Wochen sein 80-jähriges Bestehen. Grund genug, den Freunden der Trompete und des Tenorhorns, der Tuba und der Posaune bei ihren Proben einmal über die Schulter zu schauen.

Mara übt. Erhaben und klar schweben die Töne durch den Saal der Evangelischen Kirchengemeinde Wersen. Jedenfalls die meisten. Hier und da schnarrt es noch ein bisschen. Anfang des Jahres habe sich ihre Tochter dafür entschieden, Trompete spielen zu lernen, erzählt Hilke Specht. Seitdem erhält die zwölfjährige Nachwuchsbläserin – in Ermangelung weiterer Schüler – Einzelunterricht bei Chorleiterin Silke Nagel. Aber bald kann sie, wenn sie es möchte, in den traditionsreichen Posaunenchor der Evangelischen Kirchengemeinde einsteigen – und ihre gestandenen Musikerkollegen bei Gottesdiensten, Festen und Konzerten begleiten. Warum ausgerechnet Trompete? „Die klingt einfach anders“, überlegt Mara und betrachtet nachdenklich das glänzende Instrument in ihren Händen, „irgendwie besonders.“

Harmonischer Klangteppich

Als ich in Maras Alter war, habe ich in genau diesem Saal gemeinsam mit wohl drei Dutzend anderen Kindern und Jugendlichen für die Auftritte unseres damaligen Flötenchors geprobt: Das akustische Allerlei von Sopran- und Alt-, Tenor-, Bass- und Querflöten wusste Chorleiterin Barbara Ruthenschrör mit Disziplin, Nachsicht und Geduld zu einem harmonischen Klangteppich zu verknüpfen. Jedenfalls meistens. Ich erinnere mich noch genau daran, wie gut es sich angefühlt hat, Teil eines derart aufeinander abgestimmten Ensembles zu sein.

Familiäre Atmosphäre

Einige der Gesichter aus Flötenchorzeiten erkenne ich wieder, als jetzt nach und nach die Mitglieder des Posaunenchores den Saal entern. Die Atmosphäre ist herzlich. Familiär. „Seit vierundvierzig Jahren bin ich schon dabei“, erzählt Ingrid Schulze aus Halen. Mit den Worten ,Das passt wohl zu dir‘ habe ihr damaliger Schullehrer ihr ein Tenorhorn in die Hand gedrückt – und dabei sei es dann geblieben. „Wenn es mir nicht so viel Spaß machen würde, hätte ich das ja gar nicht die ganze Zeit durchgehalten“, sagt sie. Denn schließlich, mischen sich nun auch ihre Kollegen in das Gespräch, müsse der Ansatz für das jeweilige Blasinstrument auch zuhause geübt werden, täglich mindestens eine Viertelstunde, gerne auch länger. Je leichter ein Handwerk aussieht, umso mehr Training steckt oft dahinter.

Wenn es aus dem Trichter röhrt

Mit aufmunterndem Blick reicht mir die Halenerin ihr Tenorhorn – Probieren geht über Studieren. Meinen rechten Daumen friemelt sie in eine metallene Halte-Öse, Zeige-, Mittel- und Ringfinger gehören auf die drei Ventile. Die Oberlippe soll ich wie ein Vordach über die Unterlippe legen. „Nicht so verkrampft“, schmunzelt Silke Nagel. Statt dicker Backen braucht es eher ein zartes Hauchen – und, na wer sagt’s denn – da röhrt es auch schon aus dem Trichter heraus. In einer Frequenz von 440 Hertz vibrieren meine Lippen, wenn ich das eingestrichene a‘ spiele, erklärt mir die Chorleiterin. Auf diese Weise werde die stehende Luftsäule im Instrument in Schwingungen versetzt. „Leisten Sie Mara gerne Gesellschaft und üben Sie nächstes Mal mit“, lädt Silke Nagel mich augenzwinkernd ein.

„Immaterielles Kulturerbe“

Männer und Frauen, U30er und Ü40er, Senioren und Best Ager – die Zusammensetzung der gut 30-köpfigen Gruppe wie auch die Sorge, dass der Nachwuchs langsam knapp wird, spiegelt das dörfliche Leben und sein Engagement in Sachen Kirchenmusik durchaus wider. Das mag einer der Gründe dafür gewesen sein, dass die deutsche Unesco-Kommission die Posaunenchöre im Dezember 2016 in das „Bundesweite Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes“ aufgenommen hat.

„Das ist kein Sabber!“

„Können wir loslegen?“, eröffnet Chorleiterin Silke Nagel die allwöchentliche Probe, nachdem die Musiker das schwere Gepäck – lederne Aktentaschen und mehrstöckige Rollkoffer – gesichtet und ihre Instrumente ausgepackt, die Notenständer aufgebaut, die erforderlichen Liederbücher aufgeschlagen und die Eimer bereitgestellt haben. Eimer? „Da hinein lassen wir das Kondenswasser ab, das sich während des Blasens in den Instrumenten bildet“, erklärt mir Ingrid Schulze und guckt mich streng an: „Das ist kein Sabber!“ Die kleinen Plastikkübel seien sogar eigens von der Kirchengemeinde gestiftet worden.

Ich glaub ich steh im Wald…

„Auf null! Auf zwei! Auf eins!“ – während ich noch grübele, was diese Kommandos wohl bedeuten mögen, regnen die Töne auch schon auf mich herab und der Gemeindesaal verwandelt sich in meiner Phantasie in ein üppig bewachsenes Waldbiotop. Unter Buchen- und Eichengeäst sammelt sich die Jägerschaft – Halali! Ja, ein „immaterielles Kulturerbe“ – selbst wenn es nur dessen Ventilstellungen sind, stößt eben durchaus manche Kindheitserinnerung und fest im Gedächtnis verankerte Assoziation an.

Kurze Noten kürzer nehmen

Doch nach waidmännischem Pathos lotst Silke Nagel ihre Bläser auch schon „volle Kalotte“ mitten hinein in einen groovigen Brass-Band-Sound. „Traut Euch!“, feuert sie die angehenden Jubilare an, „etwas rasanter – zeigt mir eure flotten Finger!“ Kondenswasser tröpfelt in graue Plastikeimer, Notensätze werden hin- und hergereicht, Atemzeichen gestrichen, die halben Noten kurz und die kurzen noch kürzer genommen. „Ja, jetzt kommt ihr auf Tour.“ Ob Pippi Langstrumpf oder Edvard Grieg, Michael Jacksons „Heal the World“ oder „Can you feel the Love tonight“ aus dem Musical König der Löwen – das Repertoire der Wersener Bläser reicht weit über Kirche und Brauchtum hinaus.

Was vom Tage übrigbleibt…

Wenn unser Flötenesemble früher gemeinsam mit dem Posaunenchor aufgetreten ist, dann waren die Blechbläser immer unsere großen Vorbilder: das gewaltige Klangvolumen, die Brillanz der Töne, das perfekte Zusammenspiel. Ja, wird es mir etwas melancholisch ums Herz, die Flötengruppe hat sich längst aufgelöst, die Bewunderung für den Posauenchor ist definitiv geblieben.

(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 07.06.2017; Westfälische nachrichten, 08.06.2017)