Wo Labrador und Shetty sich ‚Guten Appetit‘ sagen

Tausende von „Leckerlis“ für Generationen von Vier- und von Zweibeinern hat der alte Birnenbaum im Laufe seines beinahe hundertjährigen Lebens wohl schon geliefert. Foto: Ernesto Wiebrock
Tausende von „Leckerlis“ für Generationen von Vier- und von Zweibeinern hat der alte Birnenbaum im Laufe seines beinahe hundertjährigen Lebens wohl schon geliefert. Foto: Ernesto Wiebrock

Das sattgrüne Laub raschelt im lauen Sommerwind. Boing! So ein alter Birnenbaum verwandelt ein schlichtes Fleckchen Rasen doch recht überzeugend in einen zünftigen Lieblingsplatz. Zumal, wenn das hölzerne Gewächs reichlich Früchte trägt. Von denen dann – boing! – die eine oder andere Birne unversehens der Schwerkraft folgend – herunter plumpst. Der freigiebige Baum, der wohl irgendwann Anfang der 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts von dem längst verstorbenen Bauern August Otte auf seinem Grundstück in der Bauerschaft Westerbeck gepflanzt worden ist, dürfte im Laufe der Jahrzehnte schon viele Verehrer gehabt haben: Derzeit ist es allerdings ein eher ungewöhnliches Gespann, das sich regelmäßig in seinem Schatten trifft. Ein eiliges Pärchen. Gierig geradezu. Aber weder Black Jack, das pummelige Shetlandpony, noch Sally, die naschhafte Labradorhündin, können dem süßen Frischobst widerstehen. Allerdings: Sie versuchen es auch erst gar nicht.

Obst für die Schule – frisch aus dem eigenen Garten

Als August Otte vor beinahe hundert Jahren das zarte Pflänzchen in die Erde setzte, hatte er gute Gründe: Seine Eltern besaßen nur eine kleine Landwirtschaft – und für Obstbäume reichte das Geld damals einfach nicht. „Mein Schwiegervater hat uns oft davon erzählt, wie er als junger Schüler die anderen Kinder um ihr frisches Obst beneidet hat, das sie in den Unterrichtspausen gegessen haben“, erinnert sich dessen Schwiegertochter, die 93-jährige Emmi Otte. Der junge Bauer nahm sich vor, dass seine Kinder es einmal besser haben sollten – und legte, als er den Hof übernahm, eine großzügige und gut bestückte Obstwiese an: Apfel-, Pflaumen-, Kirsch- und natürlich: Birnenbäume. Einen davon pflanzte er genau neben seine Werkstatt. Und man darf vermuten, dass manch sommerliches – Boing! – ihm eine willkommene Unterbrechung seiner handwerklichen Tüfteleien beschert hat – und seinen Kindern Fritz, Klara und Gerda prall gefüllte Proviantdosen für die Schulpausen.

Auf Milchreis, im Eintopf – oder direkt aus dem Weckglas genascht

Als die aus Kölkebeck bei Halle stammende Emmi Otte im Mai 1947 auf dem Hof „einheiratete“, stand der Birnenbaum vor der Werkstatt gerade in voller Blüte. Und – wie der Vater so der Sohn, ließ sich auch ihr Ehemann Fritz die hauseigenen Vitaminportionen gern und reichlich schmecken. Was nicht als frisches Obst direkt vom Baum in den Magen der Familienmitglieder oder als Schmorbirne in den Gemüseeintopf wanderte, wurde für den Winter eingekocht. „Mit viel Zucker, einem Schuss Essig und einer Zimtstange“, berichtet die Seniorin. Am liebsten, erzählt sie, habe ihr verstorbener Mann die eingekochten Birnen auf Milchreis oder Vanillepudding gegessen. „Oder zwischendurch einfach aus dem Weckglas genascht“, schmunzelt sie.

Der Wunsch des ‚Alten Otte‘ hat sich erfüllt

Wie viele Tausend Früchte der alte Birnenbaum im Laufe seines Lebens hervorgebracht hat, ist schwer zu sagen. Was dagegen sicher ist: Der Wunsch des ‚Alten Otte‘ hat sich zur Gänze erfüllt. Nicht nur seine drei Kinder knabberten in ihren Schulpausen an den frischen Birnen aus dem eigenem Anbau herum – selbst noch die Enkel- und die Urenkeltochter wussten die süßen Früchte als kleine Stärkung zu schätzen.

Und auch Black Jack und Sally sind mitnichten die einzigen, die in diesem Sommer nicht schnell genug am Birnenbaum bei der alten Werkstatt sein können. August Ottes Ururenkelin Emma ist ebenfalls eine bekennende Obstliebhaberin. Die Elfjährige hat gegenüber ihren beiden Vierbeinern allerdings einen entscheidenden Vorteil: Sie kann – anders als die bedauernswerten Geschöpfe ohne opponierenden Daumen – die Pforte auf der anderen Seite des Grundstücks öffnen. Dahinter liegt die verwilderte Obstwiese ihres Urahns – und viele der knorrigen Apfel-, Birnen- und Pflaumenbäume, die dort im hohen Gras stehen, tragen auch nach beinahe hundert Jahren noch immer erstaunlich gut.

(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 13.08.2014; Westfälische Nachrichten, 13.08.2014)