Hören oder nicht hören? Mittendrin in der Inklusion

Verstehen sich auch ohne viele Worte (von links): Michael Richter und Jens Keller absolvieren derzeit eine Ausbildung in der Baumschule Fels. Vorarbeiter Piotr Ziemba und sein Kollege Tom Düsing sind begeistert, wie gut die Zusammenarbeit zwischen hörenden und nichthörenden Mitarbeitern klappt. Foto: Ulrike Havermeyer
Verstehen sich auch ohne viele Worte (von links): Michael Richter und Jens Keller absolvieren derzeit eine Ausbildung in der Baumschule Fels. Vorarbeiter Piotr Ziemba und sein Kollege Tom Düsing sind begeistert, wie gut die Zusammenarbeit zwischen hörenden und nichthörenden Mitarbeitern klappt. Foto: Ulrike Havermeyer

Dass Personen mit Beeinträchtigung ganz selbstverständlich am Alltag teilhaben, ist ein Menschenrecht. Seit die Baumschule Fels einen gehörlosen Auszubildenden beschäftigt, ist Inklusion für die Mitarbeiter kein Thema mehr – sondern völlig normal.

Im Kosmos der Stille

Wie unterhalte ich mich mit jemandem, der mich nicht hören kann? Um über das Miteinander von Menschen mit und Menschen ohne Beeinträchtigung berichten zu können, informiere ich mich bei Michael Richter: Der 39-Jährige ist seit Herbst 2015 als Auszubildender in der Westerkappelner Baumschule von Christiane und Georg Fels beschäftigt und lebt von Geburt an ohne Gehörsinn. Ich wüsste niemanden, der sich besser auskennt im Teilkosmos der Stille inmitten einer Welt voller Töne. Genau der richtige Ansprechpartner, wenn es um das gelungene Zusammenleben von Hörenden und Nichthörenden geht. Durch die gemeinsame Arbeit und einen unverkrampften Umgang hat sich das Team der Fels’schen Gartenbauer in den vergangenen Monaten zu echten Inklusionsfachleuten entwickelt.

Wie funktioniert Selbstverständlichkeit?

Zusammen mit den beiden Vorarbeitern Tom Düsing und Piotr Ziemba sowie mit seinem Azubi-Kollegen Jens Keller kümmert sich Michael Richter an diesem Vormittag darum, einen Privatgarten im Außenbereich auf die kommende Vegetationsperiode vorzubereiten: Obstbäume müssen ausgelichtet und geschnitten, Ziergehölze gestutzt werden. Schon von weitem höre ich das hochfrequente Sirren einer Motorsäge. Hinter einem üppigen Ranunkelstrauch erhebt sich Piotr Ziemba: „Ich sag Michael Bescheid“, begrüßt er mich und schwenkt seinen Arm Richtung Kirschlorbeer. Eine Wollmütze taucht auf. Darunter ein lächelndes Gesicht. Der Blick: sehr offen und sehr interessiert. Michael Richter legt die Motorheckenschere aus der Hand, fixiert mich freundlich, hebt die Augenbrauen und deutet fragend auf sich selbst. Ich nicke – und bin gespannt. Denn so selbstverständlich der Umgang zwischen Menschen mit und Menschen ohne Beeinträchtigung längst sein sollte, kann ich mich doch an keine Unterhaltung erinnern, die ich bisher mit einem gehörlosen Gegenüber geführt hätte.

Ein engagiertes Team

Ob ich ihm ein paar Fragen stellen dürfe, starte ich einen – wie ich fürchte, eher ungeschickten, weil akustischen, Versuch, das Gespräch zu eröffnen. Aber statt eines verständnislosen Achselzuckens ernte ich freudige Zustimmung. Michael Richter nickt, lächelt herzlich und hebt den Daumen nach oben: „Fragen – ja“, antwortet er. Sein Arbeitgeber Georg Fels hat mir erklärt, dass der 39-Jährige vieles von den Lippen ablesen und – je länger der Austausch mit seinen Kollegen andauere – auch immer mehr Wörter artikulieren könne. Einige Mitarbeiter hätten sich inzwischen in Eigeninitiative mit der Gebärdensprache vertraut gemacht, berichtet Georg Fels mit unverhohlenem Stolz auf das Engagement seiner Leute. Er selbst benutze eher alltägliche Gesten. „Vieles davon ist ja sehr logisch“, verdeutlicht er an einigen Beispielen: „Wie hoch ein Busch geschnitten werden soll oder in welche Form – das kann man alles zeigen.“ Für jedes Werkzeug und für jeden Arbeitsschritt gibt es im Betrieb mittlerweile ein eindeutiges Zeichen. „Ich habe festgestellt, dass es auch der Kommunikation unter Hörenden zu Gute kommt, wenn man seine Worte mit klaren Gesten unterstützt“, berichtet der Chef: „Es gibt weniger Missverständnisse, und davon profitiert jeder.“

„Michael ist uns oft einen Schritt voraus“

Eine Ausbildungssituation also, bei der alle Beteiligten voneinander lernen und mehr austauschen als nur botanisches Fachwissen. „Zuerst waren wir unsicher, ob das mit der Verständigung klappen würde“, sagt Tom Düsing. Aber während der zweiwöchigen Probezeit hätten sich bereits sämtliche Zweifel zerstreut. „Wir waren einfach begeistert: Michael hat meistens schon vorher gewusst, was als nächstes dran ist“, erinnert sich Düsing und schmunzelt: „Weil er so aufmerksam und gewissenhaft ist, ist er uns auch jetzt bei der Arbeit oft schon einen Schritt voraus.“ „Besonders motivierend für uns alle sind wohl die Freude und der Spaß, mit denen Michael seine Aufgaben erledigt“, ergänzt Piotr Ziemba.

„Die herkömmlichen Standards hinterfragen“

Einmal in der Woche, wenn Georg Fels die Berichtshefte mit seinen Azubis durchgeht, unterstützt ihn eine vom Arbeitsamt bewilligte Gebärdendolmetscherin bei der Vermittlung der Fachbegriffe und der Theorie. Seine Berufsschule absolviert Michael Richter im Blockunterricht an einer Gehörloseneinrichtung für Gartenfachbau in Essen. Wenn alles klappt, ist er nach drei Jahren ausgebildeter Baumschulgeselle. „Michael schafft das“, ist sich Christiane Fels sicher: „Denn er ist voll bei der Sache und gibt richtig Gas.“ Auch Georg Fels ist rundum zufrieden: „Gerade in der heutigen Lehrlingssituation sollten Ausbildungsbetriebe ihre herkömmlichen Standards hinterfragen“, gibt er zu bedenken. „Ich bin mir sicher, dass Mitarbeiter wie Michael genau die Leute sind, die nach ihrer Ausbildung auch weiter im Unternehmen bleiben wollen.“

Daumen hoch? Daumen hoch!

Und Michael Richter? Der signalisiert seinem Kollegen Piotr Ziemba mit einem dezenten Fingerzeig auf die Armbanduhr, dass es an der Zeit sei, weiterzumachen. Ziemba fügt sich in sein Schicksal und greift nach der Motorsäge. Der tatendurstige Azubi deutet mit hoch motivierter Mimik auf die struppig gewachsenen Hortensienbüsche und malt mit der Hand eine flache Kuppel in die Luft. Deutet fragend zuerst auf die Heckenschere, dann auf sich selbst. Vorarbeiter Ziemba nickt und lächelt zustimmend. Daumen hoch? Daumen hoch!

(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 02.03.2016; Westfälische Nachrichten, 02.03.2016)