Wenn auf dem Friedhof die Stunde der Wintervögel schlägt

Dicht bestanden mit üppigem Grün präsentiert sich der alte Friedhof in Wersen dem Besucher. Doch es fehlt die für den Standort typische Vielfalt, stellen Dieter Hörnschemeyer und Christiane Franke fest. Fotos (3): Ulrike Havermeyer

Zusammen mit Christiane Franke und Dieter Hörnschemeyer verbringe ich die vom Naturschutzbund Deutschland und vom Landesbund für Vogelschutz in Bayern bundesweit ausgerufene „Stunde der Wintervögel“ auf dem alten Friedhof in Wersen. Die wichtigste Erkenntnis: Vögel fliegen nicht auf alles, nur weil es grün und gut gewachsen ist.

Mit Fernglas, Bestimmungsbuch und Strichliste ausgestattet wollen wir herausfinden und anschließend dem Nabu melden, wie viele Gefiederte sich auf dem beschaulichen Gelände im Herzen des Dorfes, das die Gemeinde Lotte für rund 140.000 Euro zu einem öffentlichen Park umgestalten will, binnen 60 Minuten Beobachtungszeit aufhalten. Ziel der groß angelegten Zählaktion ist es, „schleichende Veränderungen in der Vogelwelt“ zu erfassen, schreibt der Naturschutzbund auf seiner Website www.nabu.de. Mitmachen kann jeder, Infomaterial und Steckbriefe zu den einzelnen Arten stellt der Nabu online reichlich zur Verfügung. Und natürlich werden auch die Ergebnisse der alljährlich durchgeführten Bestandsaufnahme auf seiner Seite veröffentlicht.

Der Eichelhäher mag am liebsten – klar: Eicheln. Auf dem alten Wersener Friedhof sucht er vergebens nach ihnen. Symbolfoto: Oldiefan/Pixabay

Zwischen Koniferen und Lebensbäumen, Kirschlorbeer und Rhododendron herrscht Ruhe. Totenstille geradezu. Was für einen Friedhof ja nicht wirklich ungewöhnlich ist. Allerdings: Etwas mehr Vogelgezwitscher wäre hier – sogar jetzt, im noch brutfernen Januar – doch durchaus zu erwarten, oder? Aber weder das empörte Schimpfen einer Amsel noch das schrille Gezeter eines Eichelhähers empfängt uns hinter dem schmiedeeisernen Eingangstor. Dabei gibt es an diesem Vormittag an den Außenbedingungen für ornithologische Beobachtungen nichts zu beanstanden: Nach einer leicht frostigen Nacht ist die Temperatur auf fünf Grad angestiegen, es ist windstill und durch die dünne Wolkendecke bricht immer wieder die Wintersonne. Während die üppig begrünte Kulisse ordentlich aufgebaut und gut ausgeleuchtet ist, fehlen jetzt bloß noch die geschnäbelten Hauptdarsteller.

Innenansichten einer Blaumeise

Diplombiologin Christiane Franke verweilt reglos am Rand der Szenerie und betrachtet aufmerksam die  von einer Sandsteinmauer und efeuüberwucherten Eibenhecken umgebene Fläche. Wäre sie eine Blaumeise oder eine Singdrossel, scheint ihr suchender Blick zu signalisieren – wo würde sie sich zwischen den Grabstellen wohl am liebsten niederlassen? Welche Ressourcen hätte der mehr als 150 Jahre alte Wersener Friedhof einem heimischen Standvogel oder einem durchziehenden Wintergast zu bieten? Nahrung? Schutz? Langfristig gar: Brutmöglichkeiten?

„Ziemlich dicht bewachsen ist es hier“, sieht Franke den Landeplatz vor lauter Zypressen nicht. Oder besser: nicht sofort. Denn nach eingehender Betrachtung endet ihr optischer Orientierungsflug schließlich doch noch im Wipfelbereich eines etwa acht Meter hohen Lebensbaumes. „Hier wäre eine ganz gute Sitzwarte“, murmelt sie. Gebannt warten wir ab. Auf der anderen Seite der Hauptstraße tschilpen ein paar Haussperlinge zwischen den Wohnhäusern herum. Über den Dächern des benachbarten Rathausplatzes kreist ein Schwarm Dohlen. Und plötzlich saust ein zierliches Geschoss in den von uns beharrlich anvisierten Thuja-Baum. Am Ruf und am angedeuteten Gesang erkennen wir – na, wer sagt‘s denn – tatsächlich eine Blaumeise!

Als Blaumeise ist man nicht wählerisch und arrangiert sich – zumindest für eine kurze Stippvisite – mit den botanischen Gegebenheiten. Symbolfoto: Oldiefan/Pixabay

Ratsherr Dieter Hörnschemeyer (Die Grünen) nickt zufrieden und vermerkt unseren ersten Erfolg auf der Zählliste. Aber Christiane Franke wirkt, je länger wir über den Friedhof spazieren, zunehmend skeptisch. Die Bepflanzung mit überwiegend immergrünen und nicht heimischen Ziersträuchern, die zudem auch noch recht hoch gewachsen seien, mache das Gelände nicht nur sehr eng, sondern biete den Vögeln kaum einen Anlass zum Einfliegen: Weil so gut wie keine Standort typischen Laubbäume, Sträucher, Gräser und Kräuter auf dem alten Friedhof wüchsen, fehle das nötige Nahrungsangebot aus heimischen Früchten und Samen. Und wo keine Laubbäume seien, da sammle sich auch kein Laub auf dem Boden, in dem Insekten und anderes Kleingetier überwintern könnten. Stattdessen ist ziemlich viel nackte Erde zu sehen. „Ökologisch betrachtet ist diese Fläche wandlungswürdig“, sagt Franke.

Denkmalgeschützt ist die Grabstätte des 1984 beigesetzten Martin Niemöller.

Eine solche Veränderung dürfte dem alten Friedhof tatsächlich bevorstehen. Denn um das geschichtsträchtige Areal, auf dem sich unter vielen anderen auch das denkmalgeschützte Grab von Martin Niemöller befindet, zum „Begegnungs- und Erinnerungsort sowie zum Ort hoher Biodiversität“ zu entwickeln, wie es in einer Mitteilung des Kreises Steinfurt heißt, erhalten die Lotteraner jetzt eine Leader-Förderung der Europäischen Union zur Entwicklung des ländlichen Raumes von rund 90.000 Euro. Weitere 50.000 Euro an Eigenmitteln müsse die Kommune selbst aufbringen, erläutert Sachbearbeiterin Margarete Lersch vom Bauamt der Gemeinde auf Nachfrage. Neben dem Aspekt, den Charakter des Friedhofes – auch als Gedächtnis des Dorfes und seiner Familien – zu bewahren, sei zudem die Aufwertung der Grünfläche als ökologischer Trittstein zur angrenzenden Düteaue vorgesehen. Noch gibt es keine konkreten Pläne – Bürgerbeteiligung sei bei diesem Projekt ausdrücklich erwünscht, ermuntert Lersch, aber das Anlegen von Blühflächen und Staudenbereichen für Insekten und das sukzessive Ersetzen der Bepflanzung durch heimische Gehölze sei Teil der Überlegungen.

Das kleine, zwischen der Düte und dem Friedhof gelegene Wäldchen werte durch seinen naturnahen Zustand das gesamte Gelände für Vögel deutlich auf, befindet Christiane Franke.

Inzwischen sind 45 von 60 Minuten der Stunde der Wintervögel vergangen – und so vollgestopft der Friedhof mit Zypressengewächsen ist, so leer ist unsere Zählliste. Also beschließen wir kurzerhand, die an den Friedhof angrenzenden Flächen zum erweiterten Erfassungsgebiet zu erklären: Denn sowohl in dem verwilderten Obstgarten, in dem das Brombeergestrüpp kniehoch steht, als auch in dem kleinen Wäldchen zum Düteufer hin, dem ein Haufen lässig gestapelter Dachziegel und allerlei herumliegendes Totholz einen besonderen Charme verleihen, verlustieren sich gut hör- und sichtbar genau jene Wesen, um die es hier eigentlich geht: eine Kohlmeise, drei Schwanzmeisen, zwei Elstern, ein Grünfink, ein Buntspecht, ein Buchfink, eine Amsel, ein Kleiber, ein Zaunkönig und zwei Gimpel.

Nächste Zählaktion vom 8. bis 10. Mai 2020

„Spannend wäre es, im Frühling wieder herzukommen und nachzuschauen, welche Arten geblieben oder noch dazu gekommen sind und den alten Friedhof vielleicht sogar zum Brüten nutzen“, überlegt Christiane Franke. Das sieht der Nabu – großflächig betrachtet – genauso: Vom 8. bis 10. Mai 2020 lädt er bundesweit zu einer „Stunde der Gartenvögel“ ein, während der Naturfreunde neuerlich zur Zählliste greifen können – übrigens nicht nur in privaten Gärten, sondern auch in öffentlichen Parkanlagen, zu denen der alte Wersener Friedhof dann ja quasi gehören dürfte.

(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 15. Januar 2020)