Spazierengehen als Kunst – jeder Kilometer ein Unikat

Dass Spazierengehen durch die Natur auch als Kunstform zu betreiben ist, scheint Klosterhündin Nora schon immer gewusst zu haben. Fotos (2): Ulrike Havermeyer

Hechelnd tapst Nora inmitten ihres temporären Rudels aus kunstbeflissenen Zweibeinern durch die frühsommerliche Kulisse. Ob die Hündin weiß, dass sie ihre bedächtigen Trippelschritte an diesem Nachmittag nicht nur als Forscherin zurücklegt, sondern womöglich sogar als erste Art-Walkerin auf vier Pfoten überhaupt?

Kein Scherz – die Promenadologie, die Wissenschaft vom Spazierengehen, gibt es wirklich. Ihr Erfinder, Professor Lucius Burckhardt, hat sich von den 1970er Jahren an bis zu seinem Tod im Jahre 2003 damit beschäftigt wie Menschen, die zu Fuß unterwegs sind, die Landschaft um sich herum wahrnehmen. Der Leipziger Reinhard Krehl, einer von Burckhardts ehemaligen Studenten, betreibt das Spazierengehen sogar als Kunstform. Bei einer Wanderung rund um das Kloster Gravenhorst in Hörstel vermittelt er uns, wie jeder Kilometer zu einem Unikat wird.

Die Wissenschaft vom Wandern

„Die Spaziergangswissenschaft“, sagt Krehl und lächelt verschmitzt, „ist mir einfach über den Weg gelaufen. Ein Glücksfall.“ Nachdem er in Kassel Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung studiert und dort mit dem Meister selbst – Lucius Burkhardt – Spaziergangsforschung betrieben hat, entschloss sich Krehl zu einer Laufbahn als freischaffender Künstler. Die Natur stecke nämlich voller Beziehungen zur Kunst, hat er während seiner Streifzüge erkannt, und das praktische Gestalten habe ihn mehr gereizt als die Theorie. Trotzdem oder vielleicht auch gerade deswegen basiert vieles, was er künstlerisch angeht, auf seinen Erfahrungen aus der Spaziergangswissenschaft.

Vielseitiger Kosmos rund ums Kloster

Künstler und Spaziergangswissenschaftler Reinhard Krehl (Mitte) erklärt uns, wie man durch bloßes Wandern die Natur neu erlebt.

„Der Atlas-Walk-Gravenhorst, auf den wir uns gleich begeben“, beschreibt der 53-Jähige sein aktuelles Projekt, „lässt uns zu einem Instrument werden, durch das wir anderen Menschen den Kosmos rund um das Kloster einzigartig erfahrbar machen.“ Und so werden wir also selbst – 15 zweibeinige Detektoren plus eine vierbeinige Variante, die im Dienste der Kunst entschleunigt und mit wachen Augen beziehungsweise einer feuchten Nase drauflos marschieren – zum Kunstwerk. Oder etwas weniger dramatisch formuliert: zum Bestandteil eines „Kunstwerks im Werden“. Denn Krehls Atlas-Walk ist nur der Auftakt und soll in einer Ausstellung von Pflanzendrucken münden, die Ende des Jahres im Kunstkloster Gravenhorst – im Rahmen der „Saisonale Kloster.Garten.Kunst“ – präsentiert wird.

Erste Gehversuche als Kunstnovize

Dementsprechend lautete der zentrale Auftrag, den Krehl uns mit auf den Walk gibt: Blätter mit Löchern sammeln – als „künstlerische Zeigerwerte“ und Symbole für das Vergehen von Zeit, das Durchbrechen von begrenzenden, oberflächlichen Strukturen und das Abweichen vom Perfekten. Die Ausbeute wird der Künstler in den kommenden Wochen pressen, bearbeiten – und schließlich zu einem Gesamtkunstwerk zusammenfügen. Außerdem sollen wir die verschiedenen Böden, über die wir gehen, mittels Abstrich auf einem Blatt Papier dokumentieren. So erhält jeder von uns eine persönliche Erinnerung an seine ersten Gehversuche als Kunstnovize.

Das erdige Protokoll unseres Art-Walks.

Als pädagogisch versierter Spaziergangs-Mentor hält Krehl während der Aktion immer wieder an markanten Orten inne – unter einem üppig gewachsenen Holunderbusch, an einem ungewöhnlich gefärbten Ackerboden, um uns mit Gedichten, Bildern und Anekdoten auf die eine oder andere landschaftliche oder botanische Besonderheit aufmerksam zu machen, unsere Wahrnehmung zu schärfen und unsere Blicke auf eine vermeintlich bekannte Region neu auszurichten.

Der Duft der Region

Spitz-Mundi-Mischling Nora betrachtet das angeregte Treiben ihrer menschlichen Weggenossen, die da in den Rabatten nach perforiertem Blattmaterial stöbern und mit erdigen Fingern über blütenweißes Papier wischen, mit bewundernswerter Abgeklärtheit. „Als Klosterhund hat Nora wahrscheinlich schon mehr Kunst gesehen, als manch anderer…“, schmunzelt Frauchen Berit Gerd Andersen, die das Kunstkloster seit mehr als zehn Jahren leitet. Wenn Reinhard Krehl demnächst seinen Atlas-Walk als gedrucktes Kunstwerk im Hause ausstellt, wird die betagte Hundedame vermutlich von Bild zu Bild schlendern, hier und da interessiert schnuppern und freudig mit dem Schwanz wedeln – schließlich dürften die meisten von Krehls Objekten den Duft heimatlicher Gefilde verströmen.

Infos zum Denkmal und Atelier Kunsthaus Kloster Gravenhorst unter www.da-kunsthaus.de. Adresse: Kunsthaus Kloster Gravenhorst, Klosterstraße 10, 48477 Hörstel, Telefon: 02551 694200, E-Mai: da-kunsthaus@kreis-steinfurt.de, Öffnungszeiten Di – Sa 14 bis 18 Uhr, So und Feiertage 11 bis 18 Uhr. Die Außenanlagen sind jederzeit zugänglich.

(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 29.05.2019)