:-) Punkt, Punkt, Komma, Strich

Mit einem Spachtel verteilt Sabine Schwöppe das Rot auf der Leinwand. Bevor das Bild fertig ist, wird sie noch etliche Schichten Farbe auftragen. Foto: Ulrike Havermeyer

: – ) Punkt, Punkt, Komma, Strich – fertig ist das Mondgesicht. Am Anfang lassen sich die konkreten Dinge am ehesten zu Papier bringen. Doch manch einen reizt früher oder später auch das Unbekannte, das, was nicht so leicht zu greifen ist. Aber wie malt man eigentlich abstrakt?

„Bei mir geht es ums Experimentieren“, sagt Ulrike Gressler vom Kunstkreis Lotte, „es geht um Farben und Strukturen.“ Um sie herum auf den hölzernen Arbeitstischen liegen verstreut ungezählte Farbtuben und Pinsel, stehen Eimer voller Kleister und Spachtelmasse, Dosen gefüllt mit Steinchen, zerbröselten Eierschalen, Kaffeesatz, kräuselt sich zartes Seidenpapier. Vor allem aber, betont die freie Künstlerin aus Halen, gehe es in ihrem Kurs darum, den Mut aufzubringen, sich und den eigenen Ausdruck Schritt für Schritt zu entwickeln und mit wachsendem Selbstvertrauen zu entfalten.

In atemberaubender Geschwindigkeit verwandelt Anastasia Müller die weiße Leinwand in etwas Wildes, nahezu Lebendiges.

Hannelore Hörtel-Kleinschmidt wirkt skeptisch. „Na, ich weiß nicht so recht, ob das das Richtige für mich ist…“, wägt sie ab und bindet sich erstmal ihre Arbeitsschürze um. Zusammen mit einem halben Dutzend Gleichgesinnter hat sich die Alt-Lotteranerin in Gresslers Kurs „Experimentelles Malen mit Acrylfarben“ angemeldet. „Aus Neugier“, sagt sie, „ich wollte mal etwas ganz anderes ausprobieren.“ In der Welt des Gegenständlichen, der konkreten Formen und klar definierten Linien kennt sie sich aus und fühlt sie sich sicher – jahrelang hat Hannelore Hörtel-Kleinschmidt in ihrer Freizeit Meissner Porzellan bemalt.

Experimentelles für das Wohnzimmer

Aber abstrakt? Experimentell gar? „Hab ich noch nie gemacht“, gesteht sie mit einem Achselzucken. Einen Plan, was sie malen will, hat Hörtel-Kleinschmidt noch nicht. Am liebsten irgendetwas, das sie später gut in ihre Wohnung hängen kann. Entschlossen befreit sie zwei unberührte Leinwände im XL-Format aus der Verpackung: „Abstrakt, so stelle ich mir das vor“, sagt sie und nickt entschlossen, „ist gleichbedeutend mit großformatig.“

Auch Kaffeesatz lässt sich in die Bilder einarbeiten und sorgt für markante Strukturen.

Während einige Kursteilnehmer an diesem Abend also künstlerisches Neuland betreten, begrüßt Ulrike Gressler auch „mehrere Profis und ein Naturtalent“ im Werkraum der Hauptschule in Wersen. Letzteres ist Anastasia Müller. Mit ungläubigem Staunen sieht Hannelore Hörtel-Kleinschmidt der Westerkappelnerin dabei zu, wie diese die weiße Fläche ihrer Leinwand in atemberaubendem Tempo und alles andere als planlos in etwas Wildes, Zerklüftetes, Lebendiges verwandelt. Eine Landschaft? Ein emotionales Aufbäumen? Anastasia Müller schmunzelt: „Das ist ja noch lange nicht fertig“, bremst sie allzu frühe Interpretationen – aber es laufe möglicherweise auf eine Art Gebirge hinaus. Mit behandschuhten Händen schiebt sie, ein zufriedenes Lächeln im Gesicht, dicke Farbschichten über- und ineinander.

Nahezu endloser Gestaltungsprozess

Ein faszinierender Aspekt bei der Acrylmalerei sei der nahezu endlose Gestaltungsprozess, erklärt Ulrike Gressler. „Das Bild ist eigentlich nie fertig“, sagt sie, „weil man die einzelnen Schichten, sobald sie getrocknet sind, immer wieder neu übermalen kann.“ Neben den Möglichkeiten, mit Komplementärkontrasten der Farbigkeit einen markanten Ausdruck zu verleihen, erläutert die Künstlerin den neuen Schülerinnen, wie sie durch das Einarbeiten verschiedener Materialien für abwechslungsreiche Strukturen sorgen. „Auch hier gibt es unendlich viele Möglichkeiten.“

Klecksen, Wischen, Rollen, Spachteln – den Gestaltungsmöglichkeiten sind bei der experimentellen Malerei keine Grenzen gesetzt. Foto: Ulrike Havermeyer

Hannelore Hörtel-Kleinschmidt schlendert durch den Werkraum, blickt ihren Kolleginnen gebannt über die Schultern und sinnt auf Inspiration. Renate Bodi wälzt mit der Farbrolle grüne Teppiche auf die Leinwand. Andernorts wird gespachtelt, gepinselt und gewischt, werden Kaffeesatz-Brösel in gelbe Farbseen gestreut und Wülste aus Seidenpapier mit Kleister zu sanften Wällen geformt. Sabine Schöppe mischt original Urlaubssand aus Portugal in ihre Grundierung. Mindestens zwei Bilder nimmt jede Hobbykünstlerin an diesem Abend in Angriff. Wer eine Zäsur setzen will oder eine Schaffenspause braucht, deponiert das unvollendete Werk vorübergehend im Trockenraum.

Sich auf das eigene Gespür verlassen

„Man bekommt ein Gespür dafür, wann ein Bild fertig ist“, sagt Ulrike Gressler. Manchmal dauert es zwei Wochen, manchmal mehrere Monate. Auch den richtigen Zeitpunkt, wann ein Bild begonnen werden will, scheint der aufmerksame Künstler zu ahnen: Noch immer etwas ratlos, lässt Hannelore Hörtel-Kleinschmidt ihren Blick über den bunten Ozean der Möglichkeiten schweifen, ergreift schließlich eine der grünen Farbtuben, einen Spachtel – und begibt sich mutig auf ihre erste Reise in das unbekannte Land der Abstraktionen.

(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 23.01.2019)