Der Zapfen fällt nicht weit vom Stamm

Ich hab einen! Eben noch in der Freiheit des Hagenberges die Wurzeln in die Erde gestreckt, im nächsten Moment gefällt von einer entschlossenen Jugendlichen, steckt unser Weihnachtsbaum nun bereits im Transportnetz. Fotos (2): Ulrike Havermeyer

Von wegen „Alle Jahre wieder“ – dieses Weihnachten ist alles anders. Umgeben von weibshohen Nordmanntannen vollzieht sich auf dem Hagenberg ein einschneidender Generationenwechsel in unserer Familie.

Während unser Sohn zuhause Weihnachtsplätzchen backt, nimmt der Rest der Familie Kurs auf den Hagenberg. Liebgewordene Traditionen sind das eine, Offenheit für Veränderungen das andere – und oftmals das wichtigere. Zwar noch im Schulalter, sind unsere Kinder doch längst erwachsen genug, um den Staffelstab der Weihnachtsfest-Gestaltung von ihren Eltern zu übernehmen – und sich Nudelholz und Bügelsäge vertrauensvoll in die jugendlichen Hände legen zu lassen.

Wie wär’s mit einem Wildschweinburger?

Nichtsdestotrotz wirkt mein Mann ein wenig angespannt, als wir uns der Tannenbaum-Plantage der Familie Strübbe in Alt-Lotte nähern. Er murmelt etwas von Erfahrung und Hilfestellung geben und dem richtigen Ansatzwinkel des Sägeblattes. Unschuldig lächelnd gibt unsere 15-jährige Tochter vor, die Einwände ihres Vaters komplett überhört zu haben und weist ihn mit einer deutlichen Prise Pädagogik im Unterton darauf hin, dass – angenehm weit von den Schnittparzellen entfernt – Wildschweinburger und Glühwein gereicht würden. „Probier doch mal“, lächelt sie ihm drohend zu. Aber wie die Tochter, so der Vater. Auch er versteht sich darauf, seine Ohren auf Durchzug zu stellen – und also trotten wir zu Dritt in Richtung Wald, in dem stattliche Weihnachtsbäume aller Größen und Wuchsformen ihres Schicksals harren.

Familienerlebnis mit Eventcharakter

Erstmals seit längerer Zeit bieten Holger Strübbe und sein Team ihren Kunden in diesem Jahr wieder an, sich in den ausgedehnten Pflanzungen auf dem Hagenberg den eigenen Weihnachtsbaum auszusuchen und ganz zünftig auch selber zu schlagen. „Besonders für junge Familien ist der Kauf des Weihnachtsbaums inzwischen zu einem Erlebnis mit Eventcharakter geworden“, sagt Holger Strübbe, der seine nadelige Ware zwar am liebsten regional feilbietet, sie aber darüber hinaus auch bundesweit und bis über die holländische Grenze hinweg vertreibt. Durch den Tannenforst streifen, die verschiedenen Pflanzen kritisch beäugen – um dann endlich seinen ganz persönlichen botanischen Favoriten zu entdecken und im Schweiße seines Angesichts mit der Säge niederzuringen: Noch dichter ran an Herzklopfen und  Kindheitsträume kommt man als  Weihnachtszeit-Romantiker selten.

Wenn die Würfel und die Tanne gefallen sind…

Als meine Ehehälfte und ich uns keuchend den lehmigen Hang hinauf geschleppt haben, entdecken wir die Bommelmütze unsere Tochter weit hinten am entlegensten Ende der Fläche. In komfortablem Abstand zu jedwedem elterlichem Einfluss. „Ich hab einen!“, schallt es durch den Tann. Mein Mann wirft mir einen panischen Blick zu. Dringt da etwa bereits das leise Ratzeln einer Handsäge an unsere Ohren? „Stopp! Erstmal den Zollstock dranhalten“, stolpert der Staffelstab-Übergeber entsetzt in Richtung der familiären Zukunft, „und ist der überhaupt gleichmäßig gewachsen? Und ist die Spitze gerade? Und sind die Äste auch stabil?“ Doch just als wir den Ort der Zeitenwende erreichen, sind die Würfel und mit ihnen der Baum auch schon gefallen. Unsere Tochter lächelt amüsiert: „Hilfst du mir beim Tragen, Papa?“

Hilfst du mir beim Tragen, Papa? Gar nicht so leicht, den Staffelstab der Weihnachtsfest-Gestaltung an die nächste Generation zu übergeben.

Keine Viertelstunde und das Verspannen des Transportnetzes über dem tannenbeladenen Pkw-Anhänger später, beißt mein Mann zufrieden schmunzelnd in einen deftigen Wildschweinburger. Das handwerkliche Geschick, die treffsichere Entscheidungsfreudigkeit, den Sinn für die richtigen Proportionen – keine Frage, von wem unser Nachwuchs das habe, stellt er mit unverkennbarem Stolz fest. Die Bemerkung, dass auch eine gewisse Kontrollsucht und die Fähigkeit, diese mit versierter Nonchalance auszuhebeln, weder Vater noch Tochter (noch Sohn…) fremd sind, verkneife ich mir mal lieber. Stattdessen genieße ich die beschauliche Weihnachtsmarkt-Atmosphäre auf der urigen Hofstelle am Fuße des Hagenbergs, schlürfe Kinderpunsch, höre meinen beiden Waldarbeitern beim Fachsimpeln über Schnitttechnik und Bruchleisten zu und bin schon gespannt auf die Plätzchen, die unser Sohn zubereitet hat – nach einem vollkommen neuen Rezept, versteht sich.

(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 19.12.2018)