Unter den Brettern, die die Welt bedeuten

Etwa 20 Minuten dauert es, bis Philip Hager den Schauspieler Tetje Mierendorf in Shrek verwandelt hat. Foto: Ulrike Havermeyer

Bevor Shrek, der ungehobelte aber liebenswerte Oger, auf der Bühne der Freilichtspiele furzt und grantelt, lege ich mich unterhalb der Bretter, die die Welt bedeuten, derbe ins Zeug. In den Katakomben zwischen Garderobe und Maske wartet vor Beginn der Aufführung noch jede Menge Arbeit.

Als Praktikantin für einen Abend habe ich bei den Tecklenburger Freilichtspielen angeheuert – und stolpere nun etwas unsicher die Stufen neben der Bühne hinunter, mitten hinein in das turbulente Universum hinter und unter den Kulissen: Männer mit Nylonhauben über den Haaren und bloßen Oberkörpern hasten durch die engen Gänge, Sängerinnen trällern beschwingt ihre Lieder vor sich hin, hier ein nervöses Lachen, da ein aufmunterndes Schulterklopfen. Schwarzgekleidete Orchestermusiker stimmen ihre Instrumente. Die Techniker bitten zum Soundcheck. Als wäre ich geradewegs in einen Ameisenhaufen geraten, ist das emsige Gewusel, das sich da in dem verborgenen Schattenreich jenseits der Scheinwerfer abspielt, für meine Sinne kaum zu fassen: ein überbordends, verwirrendes und zugleich diszipliniertes Chaos!

Warum Kulissenschieben nichts für Frauen ist

„Jetzt muss alles ganz schnell gehen“, erklärt mir Anne Körner und sortiert mit geübten Griffen die messingglänzenden Wunderlampen ins Regal des kleinen Requisitenbüdchens. „Weil wir heute nicht bloß eine, sondern zwei Aufführungen haben – das Familienstück Aladin und die Abendvorstellung Shrek – bleibt nur wenig Zeit für den Umbau.“ Ratzfatz verschwinden also Wasserpfeifen, Plastikapfelsinen und silbernes Geschmeide an ihren Plätzen untertage. Oben verwandeln derweil die Kulissenschieber den orientalischen Bazar in eine grüne Sumpflandschaft. Ob ich wohl dabei helfen kann? Intendant Radulf Beuleke schüttelt den Kopf: „Viel zu schwer und zu sperrig – das ist nur etwas für erwachsene Männer!“

Lord Farquaad spielt mit „meinen Requisiten“ Barbie und Ken. (Foto: Freichtbühne Tecklenburg/Stefan Grothus)

Barbie-Püppchen für den fiesen Farquaad

Stattdessen darf ich aber schon mal die Requisiten, mit denen Shrek, Prinzessin Fiona und der fiese Lord Farquaad nachher auf der Bühne herumhantieren, an den richtigen Stellen deponieren: die grüne, überwiegend aus Montageschaum bestehende Geburtstagstorte für den Helden sowie das goldene Märchenbuch für die schlagfertige Königstochter auf einem Holztresen gleich neben dem Aufgang zur Bühne – in Reichweite der Darsteller. Ein Ken- und ein Barbie-Püppchen für den größenwahnsinnigen Farquaad direkt am Kopfende seines Bettes. Außerdem diverse Holzschilder, Blechtonnen, Blumenkränze, Trillerpfeifen und, und, und…

Am „Hot Spot“ des Geschehens

„Wenn sie möchten, können sie mir jetzt bei den Kostümen zur Hand gehen“, lädt mich Beate Schlüter gleich darauf an einen der „Hot Spots“ des Geschehens ein. Denn außer einem beeindruckenden ehrenamtlichen Chor aus etwa 35 Personen und den vier Hauptdarstellern werden in dem Musical Shrek auch 30 Ensemblemitglieder die Bühne erobern. Und weil die 18 Männer und 12 Frauen – von modebewussten Leibgardisten, verstoßenen Märchenfiguren, bärtigen Backgroundsängern über tanzende Ratten bis hin zu sprechenden Bäumen und säuselnden Kornblumen – allesamt die verschiedensten Rollen verkörpern und damit auch in die verschiedensten Verkleidungen schlüpfen, ist hier eine besonders akribische Vorbereitung vonnöten.

Auf die Menge der unterschiedlichen Kostüme im Musical Shrek angesprochen, antwortet Indendant Radulf Beuleke: „Ich habe mal die Zahl 350 gehört.“ Foto: Freilichtbühne Tecklenburg/Stefan Grothus

Bloß keinem über die Füße rollen!

Doch genau da, wo das Getümmel am hektischsten ist, scheint sich Dresserin Beate Schlüter am wohlsten zu fühlen. Selbst, als wir einen vollbeladenen Garderobenständer, an dessen Bügeln die blau-rot-gemusterten Uniformen wild hin und her schaukeln, über grobes Kopfsteinpflaster durch das fröhliche Tohuwabohu rumpeln und mir der Schweiß schon auf der Stirn steht – hoffentlich rolle ich niemandem über die Füße! – behält meine Mentorin die Nerven. „Ich liebe diese Atmosphäre“, gesteht sie voller Enthusiasmus, lächelt entspannt und hält auf dem Weg zum „Tor 1“ für jeden, der uns begegnet, ein freundliches Wort bereit.

Klettverschlüsse ermöglichen Geschwindigkeitsrausch

„Tor 1“ (vom Publikum aus am linken Bühnenrand) fungiert neben „Tor 2“ (rechts gelegen) als Umkleidestation für die Ensemblemitglieder. Jeder Hut, jeder Strumpf, jedes Hemd muss genau in der richtigen Reihenfolge am richtigen Platz liegen, erklärt mir Beate Schlüter, denn wenn während der Aufführung die Darsteller von einer Rolle in die nächste springen, zählt jeder Augenblick. „Ein schneller Umzug darf höchstens 30 Sekunden dauern“, beschreibt Schlüter den dramaturgischen Geschwindigkeitsrausch. „Eine Minute ist für einen Kostümwechsel schon ewig lange.“ Wichtiger Hinweis für alle, die nun in Versuchung geraten, derlei zeitliche Rekorde ins Private zu übertragen: „Die meisten Kostüme sind bühnentauglich gearbeitet“, rückt Beate Schlüter die Dimensionen ins rechte Licht, „haben statt Haken und Ösen Klettverschlüsse – und können den Darstellern einfach vom Körper gerissen werden.“

Sehr zur Freude seines Kumpels Esel verliebt sich Shrek in Prinzessin Fiona. Foto: Freilichtspiele Tecklenburg/Stefan Grothus

Gallig grün im Gesicht am Smartphone

Inzwischen füllen sich die Publikumsreihen. Ich begleite Radulf Beuleke noch schnell in die Werkstatt, wo es das güldene Märchenbuch der Prinzessin zu flicken gilt, dessen Rücken bei den vergangenen Aufführungen etwas gelitten hat. Ein grober Bindfaden erweist sich, fest geschnürt und ordentlich verknotet, als Lösung. Wie gut, dass ich mir gemerkt habe, wohin das Requisit gehört: auf den Holztresen natürlich! Tetje Mierendorf, der Darsteller des Shrek, hockt bereits – gallig grün im Gesicht – lässig auf einer Treppenstufe unter der Bühne und checkt noch schnell die Nachrichten auf seinem Smartphone, bevor er raus muss, das Herz von Prinzessin Fiona zu gewinnen. Und wo ist Beate Schlüter geblieben? Die hat ihre Brotdose heraus gekramt, sitzt genüsslich kauend neben ihrer Kollegin Sonja Arelmann auf einer Holzbank vor der Garderobe – und freut sich schon diebisch auf ihren Einsatz, wenn gleich nach der Eröffnungsszene 30 aufgeregte Schauspieler zum Umzug ins Tor 1 flitzen – und dort die Fetzen fliegen!

(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 09.08.2017)