Als Wilhelm Karmann 1924 Amerika entdeckte

Wilhelm Karmann (Tisch vorne links, 3. von links) beim Weltautomobiltransport-Kongress 1924 in Detroit. Foto: Museum Industriekultur
Wilhelm Karmann (Tisch vorne links, 3. von links) beim Weltautomobiltransport-Kongress 1924 in Detroit. Foto: Museum Industriekultur

 

Osnabrück. Humboldt zog es in die Neue Welt. Goethe erlag den Lockungen Italiens. Friedrich Alfred Krupp entwickelte eine Passion für die Insel Capri und die Meeresforschung. Die Ferne, so scheint es, hat ihren ganz besonderen Reiz. Vor rund 90 Jahren machte sich auch Wilhelm Karmann senior auf den Weg. Mit 53 Jahren war der gestandene Osnabrücker Unternehmer da zwar nicht mehr wirklich jung, dafür aber wissbegierig.

22 Schreibmaschinenseiten voller Reiseeindrücke
„Märchenhafte Gerüchte über die fabelhafte Größe und Leistungsfähigkeit der amerikanischen Automobil- und Karosserie-Industrie “ lockten Karmann in die USA. „Meine Amerikafahrt“ hat er seine auf 22 eng beschriebenen Schreibmaschinenseiten zusammengefassten Reiseeindrücke genannt. Ungewöhnlich waren solche Unternehmungen nicht – wenn man sie sich leisten konnte. Die Vereinigten Staaten hatten sich unübersehbar zur fortschrittlichsten und wohl auch stärksten Wirtschaftsmacht der Welt entwickelt. Der große Crash am 24.Oktober 1929 lag noch in weiter Ferne. „Amerikafahrer“ nannten sich die Firmenchefs und Manager, die sich auf den Weg in das gelobte Land des Kapitalismus machten. Ein Anklang an die Auswanderer des vorausgegangenen Jahrhunderts, auch wenn die neuen „Amerikafahrer“ in der Regel nicht im Zwischendeck reisten. Karmann schiffte sich am 24. April 1924 auf der erst ein Jahr zuvor in Dienst gestellten „Albert Ballin“ ein.

Anlass für seine große Fahrt war eine Einladung der Amerikanischen Automobilhandelskammer zum Weltautomobiltransport-Kongress in Detroit. Detroit – das Herz der amerikanischen Autoindustrie. Die „Weltautomobilstadt“, wie Karmann sie nennt. Eine Verheißung für alle, die sich mit der Produktion von Fahrzeugen beschäftigten. Endlich konnte der Osnabrücker seinen „schon lange gehegten Plan, eine Studienreise nach Nordamerika zu unternehmen, verwirklichen.“

Vom Wagenbaubetrieb zum Industrieunternehmen
1924, das war sechs Jahre nach dem großen Krieg: Deutschland ächzte unter den zu leistenden Reparationen und unter der langsam abklingenden Inflation. Aber auch das, was heute als die „Goldenen 20er“ bezeichnet wird, hat um diese Zeit begonnen. Autos traten unaufhaltsam ihren Siegeszug an. Die Firma Karmann wandelte sich vom Wagenbaubetrieb zu einem Industrieunternehmen. Und Karmann selbst hatte Henry Ford für sich entdeckt: „Mein Leben – mein Werk“ war 1923 auf Deutsch erschienen. Und scheint für ihn eine Art Offenbarung gewesen zu sein. Schließlich gilt Ford als eine der treibenden Kräfte bei der Entwicklung der industriellen Massenproduktion.

Moderne Zeiten auch bei Karmann: „Fließende“ Montage des Adler „Autobahnwagen“-Cabrio (links) um 1938.
Moderne Zeiten auch bei Karmann: „Fließende“ Montage des Adler „Autobahnwagen“-Cabrio (links) um 1938.

Schon die Einfahrt nach New York muss für Wilhelm Karmann fast wie ein kleiner Kulturschock gewesen sein: „Mit dem bloßen Auge sah es aus, als wenn ein riesiger Ameisenhaufen auf- und abkrabbelt“, schreibt er in seinem Reisebericht, „ mit dem Glas stellen wir fest, dass es unendliche, unübersehbare Reihen von Kraftwagen sind, welche die Straße aufwärts und abwärts fahren.“ Auch die Unterbringung im 20. Stock des New Yorker Hotels „Commodore“ beeindruckt ihn: „Ein Riesenhotel mit 3000 Zimmern“, dazu 20 Aufzüge, etliche davon „Express-Elevators“, die direkt bis zum 12. Stock durchfahren. Und überall, notiert er weiter, die „Riesenverkehre von Menschen und Wagen und eine märchenhafte Lichtreklame“. Die vielen, trotz der späten Stunde offenen Geschäfte begeistern ihn ebenso wie die Tatsache, dass in der New Yorker Staatszeitung bereits am 5. Mai das vorläufige Ergebnis der Reichstagswahl in Deutschland vom 4. Mai zu lesen war.Aber der Osnabrücker entdeckte in New York auch befremdliche Dinge. Zum Beispiel einen Friedhof mitten in New York: Den „Kirchhof der Milliardäre, welche hier, im Land der Gleichheit, in unmittelbarer Nähe ihrer ehemaligen Tätigkeit sich ihre letzte Ruhestätte ausgesucht haben.“

Auf dem Weg nach Detroit dann eine weitere Auffälligkeit: Die amerikanischen Eisenbahngesellschaften haben in ihren Zügen nur eine Klasse, bemerkte Karmann. In Deutschland waren da noch drei Klassen üblich.

„Fast alle Wagenbesitzer sind Selbstfahrer“
Aber es waren ja vor allem die Autos und ihre Produktionsstätten, die den Osnabrücker Unternehmer nach Amerika gezogen hatten: Verwundert stellte er fest, dass „das sogenannte amerikanische Verdeck gar nicht zum Herunterklappen eingerichtet war, also keinen Drehpunkt und keine Scharniere hatte.“ Für einen Cabrio-Experten eine schreckliche Vorstellung. Und: „Fast alle Wagenbesitzer sind Selbstfahrer und halten keine Chauffeure.“ Das Staunen nahm kein Ende: „Auch viel Damen saßen am Steuer, zum Beispiel selbst im stärksten Verkehr eine kleine Miss mit einem großen starken Wagen.“

Auch die Produktionsstätten hinterließen Eindruck: „Je zwei sich gegenüber stehende Leute arbeiten zusammen […]. Jeder hat nur einen Teil der Arbeit zu erledigen, nur wenige Handgriffe zu verrichten. […] nirgendwo sieht man eine ruhende Hand, nirgendwo einen Mann müßig stehen, nirgendwo sieht oder hört man eine Unterhaltung“, beschreibt Wilhelm Karmann einen Besuch beim Karosseriebauer Fisher.

Aber um welchen Preis? Karmann fiel „das Fehlen jeder Sozialfürsorge, jedes sozialen Schutzes und auch wohl jedes sozialen Empfindens bei den Arbeitgebern“ auf. Und: „Kein gewerkschaftlicher Einfluss und keine gewerkschaftliche Macht machen sich bemerkbar.“

Besichtigung der Ford’schen Fabriken
Der Höhepunkt der Karmann’schen Entdeckungsreise dürfte aber die Besichtigung der Ford’schen Fabriken gewesen sein: „Der Einzelne ist in dem Riesenbetriebe ein Rädchen, aber dieses Rädchen kann nicht stillstehen; die anderen Räder treiben es dadurch, dass sie selbst ununterbrochen, von fast unsichtbaren Kräften angetrieben werden, ununterbrochen wieder an“, notiert Karmann.

1933, neun Jahre nach der Amerikafahrt von Wilhelm Karmann, begann Charlie Chaplin mit den Dreharbeiten für seinen Film „Moderne Zeiten.“ Und zeigt darin die andere, die dunkle Seite der neuen Arbeitswelt. Nach Deutschland kam der 1936 fertiggestellte Film erst später. Chaplin und die Nazis, das ging gar nicht. Ob Karmann den Film je gesehen hat?

(Erschienen in der Neuen Osnabrücker Zeitung am 1. Februar 2014)

Die Karmann-StoryNachtrag: Bernd Wiersch greift die Geschichte in seinem 2015 erschienenen Buch „Die Karmann-Story – Haute Couture aus Osnabrück“ auf. Kurz nach dem Erscheinen hat der Bielefelder Verlag Delius Klasing dann allerdings den Buchhandel aufgefordert, das Werk zunächst wieder aus den Regalen zu nehmen. Rainer Thieme, von 1990 bis 2002 Chef des Osnabrücker Autobauers, wehrte sich juristisch gegen einige ihn betreffende Darstellungen …